Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_320.001 pwa_320.008 pwa_320.001 pwa_320.008 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0338" n="320"/><lb n="pwa_320.001"/> nur Mittel zum Zwecke: er überzeugt nur, um zu überreden: das Ziel, <lb n="pwa_320.002"/> wonach er mit all seinen Lehren hinsteuert, ist nur die Erregung des <lb n="pwa_320.003"/> Gefühles und durch diese und mit derselben die Bestimmung des Willens. <lb n="pwa_320.004"/> Erweckung des Gefühles ist mithin die Sache sowohl des Redners, <lb n="pwa_320.005"/> als die des Lyrikers. So kann denn der Stil, der diesen beiden <lb n="pwa_320.006"/> eigen ist, kein anderer sein als der Stil des Gefühles, die leidenschaftliche <lb n="pwa_320.007"/> Art und Weise der Darstellung.</p> <p><lb n="pwa_320.008"/> Ganz gleichbedeutend mit der von uns getroffenen Unterscheidung <lb n="pwa_320.009"/> ist eine andere aus dem griechischen und römischen Alterthume entlehnte, <lb n="pwa_320.010"/> die auch in den modernen Lehrbüchern der Rhetorik und <lb n="pwa_320.011"/> Stilistik gäng und gäbe geblieben ist: die Unterscheidung eines niederen, <lb n="pwa_320.012"/> eines mittleren und eines höheren Stils. Aber diesen Ausdrücken <lb n="pwa_320.013"/> <hi rendition="#i">niederer, mittlerer, höherer Stil</hi> gebricht die Beziehung auf <lb n="pwa_320.014"/> den jedesmaligen Inhalt und Zweck des Dargestellten, und zugleich <lb n="pwa_320.015"/> setzen sie unter den drei Stilgattungen eine Rangordnung fest, die <lb n="pwa_320.016"/> doch gar nicht so vorhanden ist: denn jede Gattung ist an ihrem <lb n="pwa_320.017"/> Orte so viel werth als die anderen an den ihrigen. Es unterscheiden <lb n="pwa_320.018"/> also die Griechen drei <foreign xml:lang="grc">χαρακτῆρας</foreign> oder <foreign xml:lang="grc">ἰδέας</foreign> oder <foreign xml:lang="grc">πλάσματα τῆς</foreign> <lb n="pwa_320.019"/> <foreign xml:lang="grc">λέξεως</foreign>, die Lateiner drei <hi rendition="#i">genera</hi> oder <hi rendition="#i">formas</hi> oder <hi rendition="#i">figuras dicendi;</hi> <lb n="pwa_320.020"/> davon heisst das eine, das unterste, genus dicendi <hi rendition="#i">submissum</hi> oder <lb n="pwa_320.021"/> auch mit anderen Benennungen, die jedoch weniger feste Kunstausdrücke <lb n="pwa_320.022"/> zu sein scheinen als jeweilige Andeutungen und Umschreibungen <lb n="pwa_320.023"/> jenes ersten Namens, <hi rendition="#i">subtile, tenue, acutum;</hi> bei den Griechen <foreign xml:lang="grc">χαρακτὴρ</foreign> <lb n="pwa_320.024"/> <foreign xml:lang="grc">λιτός</foreign> (schlicht), <foreign xml:lang="grc">ἀφελής</foreign> (schmucklos), <foreign xml:lang="grc">ἰσχνός</foreign> (dürr, dünn): das <lb n="pwa_320.025"/> andere genus <hi rendition="#i">medium, mediocre, mixtum;</hi> <foreign xml:lang="grc">χαρακτὴρ μέσος, μικτός</foreign>, <lb n="pwa_320.026"/> <foreign xml:lang="grc">ἀνθηρός</foreign> (blühend): das dritte genus <hi rendition="#i">sublime,</hi> auch <hi rendition="#i">amplum, ornatum, <lb n="pwa_320.027"/> grave, copiosum;</hi> griechisch <foreign xml:lang="grc">χαρακτὴρ ὑψηλός</foreign>, auch <foreign xml:lang="grc">μεγαλοπρεπής</foreign> <lb n="pwa_320.028"/> (prachtvoll) und eher tadelnd <foreign xml:lang="grc">ἁδρός</foreign> (schwülstig, grosssprecherisch). <lb n="pwa_320.029"/> Vergl. namentlich Ciceros Orator 23–28. Quintilian 12, 10. Jedoch <lb n="pwa_320.030"/> wohl zu merken, wenn die Alten von einem genus submissum, medium, <lb n="pwa_320.031"/> sublime sprechen, meinen sie damit eigentlich immer nur drei verschiedene <lb n="pwa_320.032"/> Arten einer und derselben Gattung sprachlicher Darstellung, <lb n="pwa_320.033"/> sie wollen damit nur drei verschiedene Arten rednerischer Prosa <lb n="pwa_320.034"/> bezeichnen, nicht aber mit dem genus submissum die Prosa, mit dem <lb n="pwa_320.035"/> genus medium die Poesie, mit dem genus sublime die rednerische <lb n="pwa_320.036"/> Prosa und die lyrische Poesie. Erst die Neueren haben sich bei der <lb n="pwa_320.037"/> ihnen eigenthümlichen Vermischung von Rhetorik und Stilistik veranlasst <lb n="pwa_320.038"/> gesehen, jene Unterscheidung weiter auszudehnen und zu übertragen, <lb n="pwa_320.039"/> so dass sie, jedoch ohne klare systematische Ueberlegung <lb n="pwa_320.040"/> und Durchführung, unter genus submissum alle Prosa mit Ausnahme <lb n="pwa_320.041"/> der rednerischen, unter genus medium alle Poesie auch mit Einschluss </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [320/0338]
pwa_320.001
nur Mittel zum Zwecke: er überzeugt nur, um zu überreden: das Ziel, pwa_320.002
wonach er mit all seinen Lehren hinsteuert, ist nur die Erregung des pwa_320.003
Gefühles und durch diese und mit derselben die Bestimmung des Willens. pwa_320.004
Erweckung des Gefühles ist mithin die Sache sowohl des Redners, pwa_320.005
als die des Lyrikers. So kann denn der Stil, der diesen beiden pwa_320.006
eigen ist, kein anderer sein als der Stil des Gefühles, die leidenschaftliche pwa_320.007
Art und Weise der Darstellung.
pwa_320.008
Ganz gleichbedeutend mit der von uns getroffenen Unterscheidung pwa_320.009
ist eine andere aus dem griechischen und römischen Alterthume entlehnte, pwa_320.010
die auch in den modernen Lehrbüchern der Rhetorik und pwa_320.011
Stilistik gäng und gäbe geblieben ist: die Unterscheidung eines niederen, pwa_320.012
eines mittleren und eines höheren Stils. Aber diesen Ausdrücken pwa_320.013
niederer, mittlerer, höherer Stil gebricht die Beziehung auf pwa_320.014
den jedesmaligen Inhalt und Zweck des Dargestellten, und zugleich pwa_320.015
setzen sie unter den drei Stilgattungen eine Rangordnung fest, die pwa_320.016
doch gar nicht so vorhanden ist: denn jede Gattung ist an ihrem pwa_320.017
Orte so viel werth als die anderen an den ihrigen. Es unterscheiden pwa_320.018
also die Griechen drei χαρακτῆρας oder ἰδέας oder πλάσματα τῆς pwa_320.019
λέξεως, die Lateiner drei genera oder formas oder figuras dicendi; pwa_320.020
davon heisst das eine, das unterste, genus dicendi submissum oder pwa_320.021
auch mit anderen Benennungen, die jedoch weniger feste Kunstausdrücke pwa_320.022
zu sein scheinen als jeweilige Andeutungen und Umschreibungen pwa_320.023
jenes ersten Namens, subtile, tenue, acutum; bei den Griechen χαρακτὴρ pwa_320.024
λιτός (schlicht), ἀφελής (schmucklos), ἰσχνός (dürr, dünn): das pwa_320.025
andere genus medium, mediocre, mixtum; χαρακτὴρ μέσος, μικτός, pwa_320.026
ἀνθηρός (blühend): das dritte genus sublime, auch amplum, ornatum, pwa_320.027
grave, copiosum; griechisch χαρακτὴρ ὑψηλός, auch μεγαλοπρεπής pwa_320.028
(prachtvoll) und eher tadelnd ἁδρός (schwülstig, grosssprecherisch). pwa_320.029
Vergl. namentlich Ciceros Orator 23–28. Quintilian 12, 10. Jedoch pwa_320.030
wohl zu merken, wenn die Alten von einem genus submissum, medium, pwa_320.031
sublime sprechen, meinen sie damit eigentlich immer nur drei verschiedene pwa_320.032
Arten einer und derselben Gattung sprachlicher Darstellung, pwa_320.033
sie wollen damit nur drei verschiedene Arten rednerischer Prosa pwa_320.034
bezeichnen, nicht aber mit dem genus submissum die Prosa, mit dem pwa_320.035
genus medium die Poesie, mit dem genus sublime die rednerische pwa_320.036
Prosa und die lyrische Poesie. Erst die Neueren haben sich bei der pwa_320.037
ihnen eigenthümlichen Vermischung von Rhetorik und Stilistik veranlasst pwa_320.038
gesehen, jene Unterscheidung weiter auszudehnen und zu übertragen, pwa_320.039
so dass sie, jedoch ohne klare systematische Ueberlegung pwa_320.040
und Durchführung, unter genus submissum alle Prosa mit Ausnahme pwa_320.041
der rednerischen, unter genus medium alle Poesie auch mit Einschluss
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |