Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_318.001 pwa_318.040 pwa_318.001 pwa_318.040 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0336" n="318"/><lb n="pwa_318.001"/> je nachdem diese oder jene Seelenkraft bei der Schöpfung des Inhaltes <lb n="pwa_318.002"/> vorzugsweise thätig gewesen ist, und demgemäss auch bei der Rückschöpfung, <lb n="pwa_318.003"/> diesem einzigen Zwecke aller Darstellung, in Anspruch <lb n="pwa_318.004"/> genommen wird. Es sind nun aber drei Kräfte, die hier in Betracht <lb n="pwa_318.005"/> kommen: Verstand, Einbildung, Gefühl. Entweder sind es die Erfahrungen <lb n="pwa_318.006"/> und Urtheile des Verstandes oder die Anschauungen der Einbildung <lb n="pwa_318.007"/> oder endlich die Regungen des Gefühls, die sowohl den Inhalt <lb n="pwa_318.008"/> des Dargestellten ausmachen, als auch mit der Darstellung der Zweck <lb n="pwa_318.009"/> verbunden ist, dass jenes verständige Wissen, jene Bilder der Phantasie, <lb n="pwa_318.010"/> jene Bewegungen des Gemüthes in gleicher Weise nun auch <lb n="pwa_318.011"/> in dem Hörer oder Leser erweckt und hervorgerufen und in seiner <lb n="pwa_318.012"/> Seele ebenso sollen reproduciert werden, als sie dem producierenden <lb n="pwa_318.013"/> Schriftsteller innegewohnt haben. Daraus ergiebt sich uns zuvörderst <lb n="pwa_318.014"/> eine dreifache Unterscheidung zwischen einem Stil des Verstandes, <lb n="pwa_318.015"/> einem Stil der Einbildung und einem Stil des Gefühles. Damit ist <lb n="pwa_318.016"/> aber nur noch bezeichnet, welche Seelenkraft jedesmal hier in dem <lb n="pwa_318.017"/> Schriftsteller und dort in dem Leser thätig sei, nicht aber welches <lb n="pwa_318.018"/> denn nun die Art und Weise der zwischen beiden mitten inne liegenden <lb n="pwa_318.019"/> Darstellung, was der Character des Stiles sei, der jedesmal <lb n="pwa_318.020"/> gefordert werde, um zwischen Schöpfung und Rückschöpfung zu vermitteln. <lb n="pwa_318.021"/> Auch in dieser Rücksicht ergeben sich die Unterscheidungen <lb n="pwa_318.022"/> und Benennungen leicht und von selbst. Wo Schöpfungen des Verstandes <lb n="pwa_318.023"/> dargestellt werden zum Behufe verständiger Reproduction, da <lb n="pwa_318.024"/> wird von der Darstellung scharfe Bestimmtheit und leichte Fasslichkeit, <lb n="pwa_318.025"/> wird mit Einem Worte Deutlichkeit gefordert. Wo Schöpfung <lb n="pwa_318.026"/> und Reproduction das Werk der Einbildung sind, d. h. jener Seelenkraft, <lb n="pwa_318.027"/> welche die Idee unter den Formen der gegebenen Wirklichkeit <lb n="pwa_318.028"/> anschaut, da gehört sich für den Stil eine dem entsprechende Sinnlichkeit <lb n="pwa_318.029"/> und Lebendigkeit, da muss die Darstellung anschaulich sein. <lb n="pwa_318.030"/> Wo endlich die Empfindsamkeit oder die Gemüthlichkeit des Schaffenden <lb n="pwa_318.031"/> auf den Reproducierenden einwirken, wo sich die leichteren oder <lb n="pwa_318.032"/> gewichtigeren Regungen der Freude oder der Trauer in der Seele <lb n="pwa_318.033"/> des letzteren wiederspiegeln sollen, da muss auch die Darstellung, <lb n="pwa_318.034"/> welche jene Einwirkung vermittelt, das Gepräge des bewegten Gefühles <lb n="pwa_318.035"/> tragen, sie muss leidenschaftlich sein. Mithin hätten wir drei Hauptgattungen <lb n="pwa_318.036"/> und drei characteristische Haupteigenschaften des Stils: <lb n="pwa_318.037"/> den Stil des <hi rendition="#i">Verstandes,</hi> dessen Eigenschaft die <hi rendition="#i">Deutlichkeit,</hi> den <lb n="pwa_318.038"/> Stil der <hi rendition="#i">Einbildung,</hi> dessen Eigenschaft die <hi rendition="#i">Anschaulichkeit,</hi> den Stil <lb n="pwa_318.039"/> des <hi rendition="#i">Gefühles,</hi> dessen Eigenschaft die <hi rendition="#i">Leidenschaftlichkeit</hi> ist.</p> <p><lb n="pwa_318.040"/> Hier wirft sich die Frage auf, wie solch eine dreigliedrige Eintheilung <lb n="pwa_318.041"/> der Gattungen und Eigenschaften des Stils sich vereinigen lasse </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [318/0336]
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je nachdem diese oder jene Seelenkraft bei der Schöpfung des Inhaltes pwa_318.002
vorzugsweise thätig gewesen ist, und demgemäss auch bei der Rückschöpfung, pwa_318.003
diesem einzigen Zwecke aller Darstellung, in Anspruch pwa_318.004
genommen wird. Es sind nun aber drei Kräfte, die hier in Betracht pwa_318.005
kommen: Verstand, Einbildung, Gefühl. Entweder sind es die Erfahrungen pwa_318.006
und Urtheile des Verstandes oder die Anschauungen der Einbildung pwa_318.007
oder endlich die Regungen des Gefühls, die sowohl den Inhalt pwa_318.008
des Dargestellten ausmachen, als auch mit der Darstellung der Zweck pwa_318.009
verbunden ist, dass jenes verständige Wissen, jene Bilder der Phantasie, pwa_318.010
jene Bewegungen des Gemüthes in gleicher Weise nun auch pwa_318.011
in dem Hörer oder Leser erweckt und hervorgerufen und in seiner pwa_318.012
Seele ebenso sollen reproduciert werden, als sie dem producierenden pwa_318.013
Schriftsteller innegewohnt haben. Daraus ergiebt sich uns zuvörderst pwa_318.014
eine dreifache Unterscheidung zwischen einem Stil des Verstandes, pwa_318.015
einem Stil der Einbildung und einem Stil des Gefühles. Damit ist pwa_318.016
aber nur noch bezeichnet, welche Seelenkraft jedesmal hier in dem pwa_318.017
Schriftsteller und dort in dem Leser thätig sei, nicht aber welches pwa_318.018
denn nun die Art und Weise der zwischen beiden mitten inne liegenden pwa_318.019
Darstellung, was der Character des Stiles sei, der jedesmal pwa_318.020
gefordert werde, um zwischen Schöpfung und Rückschöpfung zu vermitteln. pwa_318.021
Auch in dieser Rücksicht ergeben sich die Unterscheidungen pwa_318.022
und Benennungen leicht und von selbst. Wo Schöpfungen des Verstandes pwa_318.023
dargestellt werden zum Behufe verständiger Reproduction, da pwa_318.024
wird von der Darstellung scharfe Bestimmtheit und leichte Fasslichkeit, pwa_318.025
wird mit Einem Worte Deutlichkeit gefordert. Wo Schöpfung pwa_318.026
und Reproduction das Werk der Einbildung sind, d. h. jener Seelenkraft, pwa_318.027
welche die Idee unter den Formen der gegebenen Wirklichkeit pwa_318.028
anschaut, da gehört sich für den Stil eine dem entsprechende Sinnlichkeit pwa_318.029
und Lebendigkeit, da muss die Darstellung anschaulich sein. pwa_318.030
Wo endlich die Empfindsamkeit oder die Gemüthlichkeit des Schaffenden pwa_318.031
auf den Reproducierenden einwirken, wo sich die leichteren oder pwa_318.032
gewichtigeren Regungen der Freude oder der Trauer in der Seele pwa_318.033
des letzteren wiederspiegeln sollen, da muss auch die Darstellung, pwa_318.034
welche jene Einwirkung vermittelt, das Gepräge des bewegten Gefühles pwa_318.035
tragen, sie muss leidenschaftlich sein. Mithin hätten wir drei Hauptgattungen pwa_318.036
und drei characteristische Haupteigenschaften des Stils: pwa_318.037
den Stil des Verstandes, dessen Eigenschaft die Deutlichkeit, den pwa_318.038
Stil der Einbildung, dessen Eigenschaft die Anschaulichkeit, den Stil pwa_318.039
des Gefühles, dessen Eigenschaft die Leidenschaftlichkeit ist.
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Hier wirft sich die Frage auf, wie solch eine dreigliedrige Eintheilung pwa_318.041
der Gattungen und Eigenschaften des Stils sich vereinigen lasse
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