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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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Anlasses und des theoretischen Gegenstandes öfters nöthigen, in der pwa_296.002
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er kann mitunter gezwungen sein, sich in der baarsten Verständigkeit pwa_296.004
zu halten. Nicht so der geistliche, der Prediger. Sein factischer Anlass pwa_296.005
ist überall derselbe, das Wort Gottes, und ebenso hat er überall denselben pwa_296.006
practischen Zweck, die Erbauung. Deshalb muss er diesem zweiten pwa_296.007
Theile einen fortdauernden Bezug geben auf den Grund und Boden, pwa_296.008
in welchem die Erbauung lediglich beruht, auf das Gemüth des Menschen. pwa_296.009
Ein Prediger, der diess vergisst, mag immerhin seine Zuhörer pwa_296.010
theoretisch belehren über allerhand religiöse oder moralische Wahrheiten, pwa_296.011
aber practisch macht er sie ihnen nicht; er hält ihnen wohl pwa_296.012
Vorträge aus der Dogmatik oder der Ethik, aber ein lebendiges pwa_296.013
Christenthum pflanzt er nicht. Jedoch, nicht zu vergessen, ebenso pwa_296.014
verfehlt ist es auf der anderen Seite, den hier zunächst vorliegenden pwa_296.015
Zweck der Belehrung und Ueberzeugung ganz bei Seite zu setzen und pwa_296.016
bloss zum Gemüthe, nicht aber mit Bezug auf das Gemüth zum Verstande pwa_296.017
zu sprechen: auch das ist nicht recht; solchen Predigten mangelt pwa_296.018
eigentlich der ganze zweite Theil, und, was ein noch viel grösserer pwa_296.019
Fehler ist, sie üben nichts viel Besseres als eine Ueberredung in dem pwa_296.020
gemeinen üblen Sinne des Wortes, während ihnen doch nur eine pwa_296.021
Ueberredung in dem höheren wissenschaftlichen Sinne gestattet ist, pwa_296.022
d. h. eine mit der Ueberzeugung verschwisterte und auf Ueberzeugung pwa_296.023
begründete Einwirkung auf den Willen.

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Was sonst noch über Wesen und Bestimmung der disputatio zu pwa_296.025
bemerken ist, wird sich am besten beibringen lassen, wenn wir zugleich pwa_296.026
über die Einrichtung, über die Theilung und Gliederung derselben pwa_296.027
das Nöthige sagen.

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Die weltliche Redekunst pflegt diesen zweiten Haupttheil der pwa_296.029
Rede nicht selten wieder in zwei untergeordnete Abtheilungen zerfallen pwa_296.030
zu lassen, in die Erklärung und die Beweisführung. Die Erklärung pwa_296.031
besteht in der weiteren Erörterung und Auseinandersetzung des in pwa_296.032
der Exposition nur kurz vorgelegten theoretischen Satzes, in der pwa_296.033
erschöpfenden Entwickelung der Begriffe, die derselbe enthält, oder pwa_296.034
der einzelnen Gedanken, die er als der Hauptgedanke unter sich pwa_296.035
befasst, kurz in einer Analyse des Themas. Diese Erklärung kann pwa_296.036
für sich schon hinreichend sein, um die Aufgabe der Disputation pwa_296.037
zu erfüllen; sie kann hinreichend sein, um den Verstand der Zuhörer pwa_296.038
zu einem Zugeständnisse der aufgestellten Sätze zu nöthigen, und kann pwa_296.039
so die Ueberzeugung schon ganz unmittelbar herbeiführen. Reicht sie pwa_296.040
aber nicht dazu hin, und namentlich sind es die gerichtlichen Reden, pwa_296.041
in welchen die blosse Erklärung für jenen Zweck noch nicht genügt,

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Anlasses und des theoretischen Gegenstandes öfters nöthigen, in der pwa_296.002
disputatio wo möglich alle Empfindung und Phantasie zu beseitigen, pwa_296.003
er kann mitunter gezwungen sein, sich in der baarsten Verständigkeit pwa_296.004
zu halten. Nicht so der geistliche, der Prediger. Sein factischer Anlass pwa_296.005
ist überall derselbe, das Wort Gottes, und ebenso hat er überall denselben pwa_296.006
practischen Zweck, die Erbauung. Deshalb muss er diesem zweiten pwa_296.007
Theile einen fortdauernden Bezug geben auf den Grund und Boden, pwa_296.008
in welchem die Erbauung lediglich beruht, auf das Gemüth des Menschen. pwa_296.009
Ein Prediger, der diess vergisst, mag immerhin seine Zuhörer pwa_296.010
theoretisch belehren über allerhand religiöse oder moralische Wahrheiten, pwa_296.011
aber practisch macht er sie ihnen nicht; er hält ihnen wohl pwa_296.012
Vorträge aus der Dogmatik oder der Ethik, aber ein lebendiges pwa_296.013
Christenthum pflanzt er nicht. Jedoch, nicht zu vergessen, ebenso pwa_296.014
verfehlt ist es auf der anderen Seite, den hier zunächst vorliegenden pwa_296.015
Zweck der Belehrung und Ueberzeugung ganz bei Seite zu setzen und pwa_296.016
bloss zum Gemüthe, nicht aber mit Bezug auf das Gemüth zum Verstande pwa_296.017
zu sprechen: auch das ist nicht recht; solchen Predigten mangelt pwa_296.018
eigentlich der ganze zweite Theil, und, was ein noch viel grösserer pwa_296.019
Fehler ist, sie üben nichts viel Besseres als eine Ueberredung in dem pwa_296.020
gemeinen üblen Sinne des Wortes, während ihnen doch nur eine pwa_296.021
Ueberredung in dem höheren wissenschaftlichen Sinne gestattet ist, pwa_296.022
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begründete Einwirkung auf den Willen.

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Was sonst noch über Wesen und Bestimmung der disputatio zu pwa_296.025
bemerken ist, wird sich am besten beibringen lassen, wenn wir zugleich pwa_296.026
über die Einrichtung, über die Theilung und Gliederung derselben pwa_296.027
das Nöthige sagen.

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Die weltliche Redekunst pflegt diesen zweiten Haupttheil der pwa_296.029
Rede nicht selten wieder in zwei untergeordnete Abtheilungen zerfallen pwa_296.030
zu lassen, in die Erklärung und die Beweisführung. Die Erklärung pwa_296.031
besteht in der weiteren Erörterung und Auseinandersetzung des in pwa_296.032
der Exposition nur kurz vorgelegten theoretischen Satzes, in der pwa_296.033
erschöpfenden Entwickelung der Begriffe, die derselbe enthält, oder pwa_296.034
der einzelnen Gedanken, die er als der Hauptgedanke unter sich pwa_296.035
befasst, kurz in einer Analyse des Themas. Diese Erklärung kann pwa_296.036
für sich schon hinreichend sein, um die Aufgabe der Disputation pwa_296.037
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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 296. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/314>, abgerufen am 24.11.2024.