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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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Welt zur höchsten Stufe der Vervollkommnung erhoben. Hier finden pwa_274.002
wir auch schon frühzeitig und immer wieder ihre Theorie, die Homiletik. pwa_274.003
Die älteste Homiletik ist in den vier Büchern de doctrina christiana pwa_274.004
von Aurelius Augustinus (354-430) enthalten. Man macht pwa_274.005
einen Unterschied zwischen Predigten und Casualreden (Gelegenheitspredigten): pwa_274.006
danach könnte es scheinen, als wenn die geistliche Beredsamkeit pwa_274.007
zur Darstellung ihrer, der religiösen Wahrheiten nicht grade pwa_274.008
immer eines vorliegenden factischen Anlasses, einer Gelegenheit bedürfe, pwa_274.009
in der Art, wie die gerichtliche und die politische sich immer an einen pwa_274.010
solchen anlehnen: allerdings haben auch nur die Casualreden einen pwa_274.011
Anlass, der in ganz gleicher Weise der geschichtlichen Wirklichkeit pwa_274.012
angehört, z. B. den Tod eines Gemeindegliedes, einen Sieg, eine pwa_274.013
gesegnete Ernte oder etwa eine Predigerversammlung u. dgl. Indessen pwa_274.014
auch den im engeren Sinne sogenannten Predigten fehlt der äussere pwa_274.015
Anlass und Anstoss nicht, sie knüpfen sich auch an etwas historisch pwa_274.016
Gegebenes, nur freilich an etwas historisch Gegebenes von ganz anderer pwa_274.017
Art als jene weltlichen Reden, nämlich an das Wort Gottes. Hier ist pwa_274.018
also der Anlass keine bloss einmal eingetretene Thatsache, es sind pwa_274.019
keine grade jetzt nur vorliegenden Umstände, sondern eine in unveränderlichem pwa_274.020
Bestande fortdauernde Wirklichkeit, wie denn auch nach pwa_274.021
der strengeren Ordnung der katholischen und der ihr folgenden lutherischen pwa_274.022
Kirche mit jedem neuen Kirchenjahr derselbe Kreislauf derselben pwa_274.023
biblischen Texte, der sogenannten Perikopen, wiederkehrt. In pwa_274.024
gleicher Weise unterscheidet sich auch der practische Zweck der geistlichen pwa_274.025
Beredsamkeit von dem practischen Zwecke der weltlichen. Der pwa_274.026
gerichtliche Redner und der politische haben, wie ihr Anlass ein momentaner pwa_274.027
ist, so auch immer nur eine momentane und vereinzelte Wirkung pwa_274.028
im Auge; die Thatsachen, die sie bezwecken, sind Thatsachen der pwa_274.029
äusseren Welt und können deswegen auch immer nur einmal grade pwa_274.030
so zur Erscheinung kommen: die Aussendung der athenischen Flotte, pwa_274.031
die Freisprechung des Roscius von Ameria sind die Sache eines pwa_274.032
Momentes. Und jede neue Rede geht auf Herbeiführung neuer so pwa_274.033
vergänglicher Facta aus. Anders die geistliche Beredsamkeit. Indem pwa_274.034
hier der Redner auf Anlass des göttlichen Wortes die Wahrheiten der pwa_274.035
Religion verkündigt, ist seine Absicht nicht, die Zuhörer zu einer vorübergehenden pwa_274.036
äusseren Handlung zu bewegen; wie hier der Anlass ein pwa_274.037
beständig fortdauernder ist, so liegt auch die bezweckte Wirkung nicht pwa_274.038
in den Schranken des Momentes und der sinnlichen Aussenwelt, sondern pwa_274.039
es ist die nirgend von Raum und Zeit abgegrenzte, über das pwa_274.040
Erdenleben hinausgreifende Erbauung des Reiches Gottes. Also auch pwa_274.041
hier ein practischer Zweck, zu dessen Herbeiführung die blosse Ueberzeugung

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Welt zur höchsten Stufe der Vervollkommnung erhoben. Hier finden pwa_274.002
wir auch schon frühzeitig und immer wieder ihre Theorie, die Homiletik. pwa_274.003
Die älteste Homiletik ist in den vier Büchern de doctrina christiana pwa_274.004
von Aurelius Augustinus (354–430) enthalten. Man macht pwa_274.005
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Bestande fortdauernde Wirklichkeit, wie denn auch nach pwa_274.021
der strengeren Ordnung der katholischen und der ihr folgenden lutherischen pwa_274.022
Kirche mit jedem neuen Kirchenjahr derselbe Kreislauf derselben pwa_274.023
biblischen Texte, der sogenannten Perikopen, wiederkehrt. In pwa_274.024
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Beredsamkeit von dem practischen Zwecke der weltlichen. Der pwa_274.026
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so zur Erscheinung kommen: die Aussendung der athenischen Flotte, pwa_274.031
die Freisprechung des Roscius von Ameria sind die Sache eines pwa_274.032
Momentes. Und jede neue Rede geht auf Herbeiführung neuer so pwa_274.033
vergänglicher Facta aus. Anders die geistliche Beredsamkeit. Indem pwa_274.034
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[274/0292] pwa_274.001 Welt zur höchsten Stufe der Vervollkommnung erhoben. Hier finden pwa_274.002 wir auch schon frühzeitig und immer wieder ihre Theorie, die Homiletik. pwa_274.003 Die älteste Homiletik ist in den vier Büchern de doctrina christiana pwa_274.004 von Aurelius Augustinus (354–430) enthalten. Man macht pwa_274.005 einen Unterschied zwischen Predigten und Casualreden (Gelegenheitspredigten): pwa_274.006 danach könnte es scheinen, als wenn die geistliche Beredsamkeit pwa_274.007 zur Darstellung ihrer, der religiösen Wahrheiten nicht grade pwa_274.008 immer eines vorliegenden factischen Anlasses, einer Gelegenheit bedürfe, pwa_274.009 in der Art, wie die gerichtliche und die politische sich immer an einen pwa_274.010 solchen anlehnen: allerdings haben auch nur die Casualreden einen pwa_274.011 Anlass, der in ganz gleicher Weise der geschichtlichen Wirklichkeit pwa_274.012 angehört, z. B. den Tod eines Gemeindegliedes, einen Sieg, eine pwa_274.013 gesegnete Ernte oder etwa eine Predigerversammlung u. dgl. Indessen pwa_274.014 auch den im engeren Sinne sogenannten Predigten fehlt der äussere pwa_274.015 Anlass und Anstoss nicht, sie knüpfen sich auch an etwas historisch pwa_274.016 Gegebenes, nur freilich an etwas historisch Gegebenes von ganz anderer pwa_274.017 Art als jene weltlichen Reden, nämlich an das Wort Gottes. Hier ist pwa_274.018 also der Anlass keine bloss einmal eingetretene Thatsache, es sind pwa_274.019 keine grade jetzt nur vorliegenden Umstände, sondern eine in unveränderlichem pwa_274.020 Bestande fortdauernde Wirklichkeit, wie denn auch nach pwa_274.021 der strengeren Ordnung der katholischen und der ihr folgenden lutherischen pwa_274.022 Kirche mit jedem neuen Kirchenjahr derselbe Kreislauf derselben pwa_274.023 biblischen Texte, der sogenannten Perikopen, wiederkehrt. In pwa_274.024 gleicher Weise unterscheidet sich auch der practische Zweck der geistlichen pwa_274.025 Beredsamkeit von dem practischen Zwecke der weltlichen. Der pwa_274.026 gerichtliche Redner und der politische haben, wie ihr Anlass ein momentaner pwa_274.027 ist, so auch immer nur eine momentane und vereinzelte Wirkung pwa_274.028 im Auge; die Thatsachen, die sie bezwecken, sind Thatsachen der pwa_274.029 äusseren Welt und können deswegen auch immer nur einmal grade pwa_274.030 so zur Erscheinung kommen: die Aussendung der athenischen Flotte, pwa_274.031 die Freisprechung des Roscius von Ameria sind die Sache eines pwa_274.032 Momentes. Und jede neue Rede geht auf Herbeiführung neuer so pwa_274.033 vergänglicher Facta aus. Anders die geistliche Beredsamkeit. Indem pwa_274.034 hier der Redner auf Anlass des göttlichen Wortes die Wahrheiten der pwa_274.035 Religion verkündigt, ist seine Absicht nicht, die Zuhörer zu einer vorübergehenden pwa_274.036 äusseren Handlung zu bewegen; wie hier der Anlass ein pwa_274.037 beständig fortdauernder ist, so liegt auch die bezweckte Wirkung nicht pwa_274.038 in den Schranken des Momentes und der sinnlichen Aussenwelt, sondern pwa_274.039 es ist die nirgend von Raum und Zeit abgegrenzte, über das pwa_274.040 Erdenleben hinausgreifende Erbauung des Reiches Gottes. Also auch pwa_274.041 hier ein practischer Zweck, zu dessen Herbeiführung die blosse Ueberzeugung

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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 274. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/292>, abgerufen am 25.11.2024.