Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_264.001 pwa_264.017 2. DIE LEHRENDE PROSA. pwa_264.018 pwa_264.001 pwa_264.017 2. DIE LEHRENDE PROSA. pwa_264.018 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0282" n="264"/><lb n="pwa_264.001"/> Verlauf zu geben: solch ein Characteristiker dagegen kann auch die <lb n="pwa_264.002"/> einzelnen characteristischen Thatsachen in ganz eigentlicher Art historisch <lb n="pwa_264.003"/> verbinden. Zum Beispiel, er will den Character eines Zerstreuten <lb n="pwa_264.004"/> entwerfen: wäre der Zerstreute eine historische Person, so würde die <lb n="pwa_264.005"/> eine Thatsache, die als Beleg erzählt wird, vielleicht in ihr zehntes, <lb n="pwa_264.006"/> die andere in ihr fünfzigstes Lebensjahr gehören, und es bestünde zwischen <lb n="pwa_264.007"/> ihnen kein unmittelbarer geschichtlicher Zusammenhang; hier <lb n="pwa_264.008"/> aber, wo die Persönlichkeit des Zerstreuten mit all ihren Zerstreutheiten <lb n="pwa_264.009"/> frei erfunden ist, darf auch alles das in den ununterbrochen <lb n="pwa_264.010"/> fortschreitenden Verlauf der Geschichte etwa eines einzigen Tages aus <lb n="pwa_264.011"/> dessen Leben zusammengedrängt werden. Solchen Characteristiken <lb n="pwa_264.012"/> fehlte dann, um zu Novellen oder gar zu Romanen zu werden, nur <lb n="pwa_264.013"/> eine grössere Fülle von thatsächlichem Inhalt und eine reichere Verwickelung <lb n="pwa_264.014"/> desselben. Wirklich findet sich dergleichen bei Cervantes <lb n="pwa_264.015"/> unter seinen Novellen; es sind reine Characteristiken, die er jedoch <lb n="pwa_264.016"/> Novellen nennt.</p> </div> <div n="4"> <head> <hi rendition="#c"><lb n="pwa_264.017"/> 2. DIE LEHRENDE PROSA.</hi> </head> <p><lb n="pwa_264.018"/> Wie sich die erzählende Prosa sowohl ihrem innern Wesen nach <lb n="pwa_264.019"/> als in ihrer äussern historischen Entwickelung an die epische Poesie <lb n="pwa_264.020"/> anlehnt, so ist die zweite Art der Prosa, die lehrende, die didactische, <lb n="pwa_264.021"/> das Nachbild und Gegenbild der Lyrik, und zwar derjenigen Lyrik, <lb n="pwa_264.022"/> in welcher schon eine prosaische Richtung anklingt, der didactischen. <lb n="pwa_264.023"/> Schon früherhin (S. 154) ist angedeutet worden, wie sich das auch wenigstens <lb n="pwa_264.024"/> in der griechischen Litteratur ganz historisch nachweisen lasse: da <lb n="pwa_264.025"/> finden sich die Anfänge der philosophischen Didaxis dem Wesen und <lb n="pwa_264.026"/> der Form des Vortrages nach noch innerhalb der Poesie, und dann <lb n="pwa_264.027"/> erst, als die Erkenntniss wuchs, und die Philosophie auf verschiedenen <lb n="pwa_264.028"/> Wegen immer mehr der systematischen Ausbildung entgegenreifte, erst <lb n="pwa_264.029"/> da stellte sich nach und nach das Bedürfniss der prosaischen Form <lb n="pwa_264.030"/> und die prosaische Form selber ein; die rednerische Prosa aber hielt <lb n="pwa_264.031"/> in ihrer Ausbildung gleichen Schritt mit der philosophischen. In der <lb n="pwa_264.032"/> neuen Zeit freilich ist auf dem Gebiete der lehrenden Prosa kein <lb n="pwa_264.033"/> Stufengang der Art vorhanden, und die Gründe dazu liegen nah. Die <lb n="pwa_264.034"/> Deutschen und die übrigen neueren Völker bekamen zu einer Zeit, da <lb n="pwa_264.035"/> ihre Poesie noch am Anfang ihrer Laufbahn stand, da sie nur noch <lb n="pwa_264.036"/> das einfache Heldenlied besass und noch keine Lyrik, bekamen damals <lb n="pwa_264.037"/> schon mit dem Christenthum und der kirchlichen Gelehrsamkeit auch <lb n="pwa_264.038"/> die lehrende Prosa, und so gehn von den ersten Anfängen unserer </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [264/0282]
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Verlauf zu geben: solch ein Characteristiker dagegen kann auch die pwa_264.002
einzelnen characteristischen Thatsachen in ganz eigentlicher Art historisch pwa_264.003
verbinden. Zum Beispiel, er will den Character eines Zerstreuten pwa_264.004
entwerfen: wäre der Zerstreute eine historische Person, so würde die pwa_264.005
eine Thatsache, die als Beleg erzählt wird, vielleicht in ihr zehntes, pwa_264.006
die andere in ihr fünfzigstes Lebensjahr gehören, und es bestünde zwischen pwa_264.007
ihnen kein unmittelbarer geschichtlicher Zusammenhang; hier pwa_264.008
aber, wo die Persönlichkeit des Zerstreuten mit all ihren Zerstreutheiten pwa_264.009
frei erfunden ist, darf auch alles das in den ununterbrochen pwa_264.010
fortschreitenden Verlauf der Geschichte etwa eines einzigen Tages aus pwa_264.011
dessen Leben zusammengedrängt werden. Solchen Characteristiken pwa_264.012
fehlte dann, um zu Novellen oder gar zu Romanen zu werden, nur pwa_264.013
eine grössere Fülle von thatsächlichem Inhalt und eine reichere Verwickelung pwa_264.014
desselben. Wirklich findet sich dergleichen bei Cervantes pwa_264.015
unter seinen Novellen; es sind reine Characteristiken, die er jedoch pwa_264.016
Novellen nennt.
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2. DIE LEHRENDE PROSA. pwa_264.018
Wie sich die erzählende Prosa sowohl ihrem innern Wesen nach pwa_264.019
als in ihrer äussern historischen Entwickelung an die epische Poesie pwa_264.020
anlehnt, so ist die zweite Art der Prosa, die lehrende, die didactische, pwa_264.021
das Nachbild und Gegenbild der Lyrik, und zwar derjenigen Lyrik, pwa_264.022
in welcher schon eine prosaische Richtung anklingt, der didactischen. pwa_264.023
Schon früherhin (S. 154) ist angedeutet worden, wie sich das auch wenigstens pwa_264.024
in der griechischen Litteratur ganz historisch nachweisen lasse: da pwa_264.025
finden sich die Anfänge der philosophischen Didaxis dem Wesen und pwa_264.026
der Form des Vortrages nach noch innerhalb der Poesie, und dann pwa_264.027
erst, als die Erkenntniss wuchs, und die Philosophie auf verschiedenen pwa_264.028
Wegen immer mehr der systematischen Ausbildung entgegenreifte, erst pwa_264.029
da stellte sich nach und nach das Bedürfniss der prosaischen Form pwa_264.030
und die prosaische Form selber ein; die rednerische Prosa aber hielt pwa_264.031
in ihrer Ausbildung gleichen Schritt mit der philosophischen. In der pwa_264.032
neuen Zeit freilich ist auf dem Gebiete der lehrenden Prosa kein pwa_264.033
Stufengang der Art vorhanden, und die Gründe dazu liegen nah. Die pwa_264.034
Deutschen und die übrigen neueren Völker bekamen zu einer Zeit, da pwa_264.035
ihre Poesie noch am Anfang ihrer Laufbahn stand, da sie nur noch pwa_264.036
das einfache Heldenlied besass und noch keine Lyrik, bekamen damals pwa_264.037
schon mit dem Christenthum und der kirchlichen Gelehrsamkeit auch pwa_264.038
die lehrende Prosa, und so gehn von den ersten Anfängen unserer
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