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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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Unter-Unterschiede, zur vollständigen Classification würden noch pwa_257.002
novellenartige Erzählungen und erzählungartige Novellen gehören. pwa_257.003
Zudem erscheint dieser Gegensatz auch in so fern noch willkürlich, pwa_257.004
als er weder in dem Worte Erzählung, noch in dem Worte Novelle pwa_257.005
irgendwie sprachlich begründet ist. Die Italiäner haben seit dem pwa_257.006
Ende des dreizehnten Jahrhunderts, wo diese Gattung der Litteratur pwa_257.007
bei ihnen beginnt, alle und jedwede erzählende Prosa, sobald man pwa_257.008
meinte damit etwas bisher noch nicht Erzähltes oder nicht so Erzähltes pwa_257.009
zu berichten, und sobald der Umfang ein eng begrenzter, selbst pwa_257.010
wenn er der allergeringste war, novella genannt, d. h. eine kleine pwa_257.011
Neuigkeit. Novelle bedeutet mithin s. v. a. Anecdote, und Anecdote pwa_257.012
hat ja auch ursprünglich ganz denselben Sinn und bezeichnet eine pwa_257.013
noch nicht herausgegebene, noch unbekannte, neue Geschichte. Alle pwa_257.014
und jede eng begrenzte erzählende Prosa, auch die eigentlich historische, pwa_257.015
kann also mit dem Namen Novelle belegt werden. So enthält pwa_257.016
die älteste italiänische Novellensammlung, die noch dem dreizehnten pwa_257.017
Jahrhundert angehörenden Cento novelle antiche, unter andern eine pwa_257.018
ganze Menge solcher Stücke, die wir historische Anecdoten nennen pwa_257.019
würden, einzelne Thaten und Reden von bedeutenden Personen des pwa_257.020
Mittelalters, die oft nur wenige Zeilen umfassen. Erst über ein halbes pwa_257.021
Jahrhundert später gelangte die italiänische Novelle durch Boccaccios pwa_257.022
Decamerone zu einer grösseren Kunst der ausführlichen Darstellung pwa_257.023
und wandte sich zugleich beinahe gänzlich von dem eigentlich Historischen pwa_257.024
ab. Aber wohl zu merken: erfunden hat Boccaccio keine einzige pwa_257.025
seiner hundert Geschichten, sie haben alle, wenn nicht historische, pwa_257.026
dann immer sagenhafte Natur, die Darstellung hält sich in allen pwa_257.027
sammt und sonders in der episch ausführlicheren Weise jener sogenannten pwa_257.028
Erzählungen, und gleichwohl nennt er alle Novellen. Und pwa_257.029
ebenso sind die spanischen Novellen beschaffen, z. B. die von Cervantes, pwa_257.030
auch sie würden nach jener Theorie Erzählungen zu nennen pwa_257.031
sein. Nur darin weicht Cervantes von Boccaccio ab, dass er den pwa_257.032
Inhalt seiner Novellen wohl grossentheils schon selber erfunden hat: pwa_257.033
er lebte aber auch in einer Zeit, wo in Spanien wie in anderen Ländern pwa_257.034
das Epos und mit ihm die sagenhafte Richtung der Litteratur pwa_257.035
längst abgestorben war. Nach all diesem ist es nichts als eine pure pwa_257.036
Willkürlichkeit, wenn wir nun die Sache gradezu auf den Kopf stellen pwa_257.037
wollen und Erzählungen der Art, wie sie bei den Italiänern und Spaniern pwa_257.038
Novellen heissen, Erzählungen nennen, solche aber, wie jene pwa_257.039
eigentlich gar nicht gekannt haben, grade solche nur Novellen mit pwa_257.040
diesem italiänischen und spanischen Namen. Der ganze Unterschied pwa_257.041
ist ersonnen, wie jener zwischen Ballade und Romanze (S. 99).

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Unter-Unterschiede, zur vollständigen Classification würden noch pwa_257.002
novellenartige Erzählungen und erzählungartige Novellen gehören. pwa_257.003
Zudem erscheint dieser Gegensatz auch in so fern noch willkürlich, pwa_257.004
als er weder in dem Worte Erzählung, noch in dem Worte Novelle pwa_257.005
irgendwie sprachlich begründet ist. Die Italiäner haben seit dem pwa_257.006
Ende des dreizehnten Jahrhunderts, wo diese Gattung der Litteratur pwa_257.007
bei ihnen beginnt, alle und jedwede erzählende Prosa, sobald man pwa_257.008
meinte damit etwas bisher noch nicht Erzähltes oder nicht so Erzähltes pwa_257.009
zu berichten, und sobald der Umfang ein eng begrenzter, selbst pwa_257.010
wenn er der allergeringste war, novella genannt, d. h. eine kleine pwa_257.011
Neuigkeit. Novelle bedeutet mithin s. v. a. Anecdote, und Anecdote pwa_257.012
hat ja auch ursprünglich ganz denselben Sinn und bezeichnet eine pwa_257.013
noch nicht herausgegebene, noch unbekannte, neue Geschichte. Alle pwa_257.014
und jede eng begrenzte erzählende Prosa, auch die eigentlich historische, pwa_257.015
kann also mit dem Namen Novelle belegt werden. So enthält pwa_257.016
die älteste italiänische Novellensammlung, die noch dem dreizehnten pwa_257.017
Jahrhundert angehörenden Cento novelle antiche, unter andern eine pwa_257.018
ganze Menge solcher Stücke, die wir historische Anecdoten nennen pwa_257.019
würden, einzelne Thaten und Reden von bedeutenden Personen des pwa_257.020
Mittelalters, die oft nur wenige Zeilen umfassen. Erst über ein halbes pwa_257.021
Jahrhundert später gelangte die italiänische Novelle durch Boccaccios pwa_257.022
Decamerone zu einer grösseren Kunst der ausführlichen Darstellung pwa_257.023
und wandte sich zugleich beinahe gänzlich von dem eigentlich Historischen pwa_257.024
ab. Aber wohl zu merken: erfunden hat Boccaccio keine einzige pwa_257.025
seiner hundert Geschichten, sie haben alle, wenn nicht historische, pwa_257.026
dann immer sagenhafte Natur, die Darstellung hält sich in allen pwa_257.027
sammt und sonders in der episch ausführlicheren Weise jener sogenannten pwa_257.028
Erzählungen, und gleichwohl nennt er alle Novellen. Und pwa_257.029
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auch sie würden nach jener Theorie Erzählungen zu nennen pwa_257.031
sein. Nur darin weicht Cervantes von Boccaccio ab, dass er den pwa_257.032
Inhalt seiner Novellen wohl grossentheils schon selber erfunden hat: pwa_257.033
er lebte aber auch in einer Zeit, wo in Spanien wie in anderen Ländern pwa_257.034
das Epos und mit ihm die sagenhafte Richtung der Litteratur pwa_257.035
längst abgestorben war. Nach all diesem ist es nichts als eine pure pwa_257.036
Willkürlichkeit, wenn wir nun die Sache gradezu auf den Kopf stellen pwa_257.037
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diesem italiänischen und spanischen Namen. Der ganze Unterschied pwa_257.041
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[257/0275] pwa_257.001 Unter-Unterschiede, zur vollständigen Classification würden noch pwa_257.002 novellenartige Erzählungen und erzählungartige Novellen gehören. pwa_257.003 Zudem erscheint dieser Gegensatz auch in so fern noch willkürlich, pwa_257.004 als er weder in dem Worte Erzählung, noch in dem Worte Novelle pwa_257.005 irgendwie sprachlich begründet ist. Die Italiäner haben seit dem pwa_257.006 Ende des dreizehnten Jahrhunderts, wo diese Gattung der Litteratur pwa_257.007 bei ihnen beginnt, alle und jedwede erzählende Prosa, sobald man pwa_257.008 meinte damit etwas bisher noch nicht Erzähltes oder nicht so Erzähltes pwa_257.009 zu berichten, und sobald der Umfang ein eng begrenzter, selbst pwa_257.010 wenn er der allergeringste war, novella genannt, d. h. eine kleine pwa_257.011 Neuigkeit. Novelle bedeutet mithin s. v. a. Anecdote, und Anecdote pwa_257.012 hat ja auch ursprünglich ganz denselben Sinn und bezeichnet eine pwa_257.013 noch nicht herausgegebene, noch unbekannte, neue Geschichte. Alle pwa_257.014 und jede eng begrenzte erzählende Prosa, auch die eigentlich historische, pwa_257.015 kann also mit dem Namen Novelle belegt werden. So enthält pwa_257.016 die älteste italiänische Novellensammlung, die noch dem dreizehnten pwa_257.017 Jahrhundert angehörenden Cento novelle antiche, unter andern eine pwa_257.018 ganze Menge solcher Stücke, die wir historische Anecdoten nennen pwa_257.019 würden, einzelne Thaten und Reden von bedeutenden Personen des pwa_257.020 Mittelalters, die oft nur wenige Zeilen umfassen. Erst über ein halbes pwa_257.021 Jahrhundert später gelangte die italiänische Novelle durch Boccaccios pwa_257.022 Decamerone zu einer grösseren Kunst der ausführlichen Darstellung pwa_257.023 und wandte sich zugleich beinahe gänzlich von dem eigentlich Historischen pwa_257.024 ab. Aber wohl zu merken: erfunden hat Boccaccio keine einzige pwa_257.025 seiner hundert Geschichten, sie haben alle, wenn nicht historische, pwa_257.026 dann immer sagenhafte Natur, die Darstellung hält sich in allen pwa_257.027 sammt und sonders in der episch ausführlicheren Weise jener sogenannten pwa_257.028 Erzählungen, und gleichwohl nennt er alle Novellen. Und pwa_257.029 ebenso sind die spanischen Novellen beschaffen, z. B. die von Cervantes, pwa_257.030 auch sie würden nach jener Theorie Erzählungen zu nennen pwa_257.031 sein. Nur darin weicht Cervantes von Boccaccio ab, dass er den pwa_257.032 Inhalt seiner Novellen wohl grossentheils schon selber erfunden hat: pwa_257.033 er lebte aber auch in einer Zeit, wo in Spanien wie in anderen Ländern pwa_257.034 das Epos und mit ihm die sagenhafte Richtung der Litteratur pwa_257.035 längst abgestorben war. Nach all diesem ist es nichts als eine pure pwa_257.036 Willkürlichkeit, wenn wir nun die Sache gradezu auf den Kopf stellen pwa_257.037 wollen und Erzählungen der Art, wie sie bei den Italiänern und Spaniern pwa_257.038 Novellen heissen, Erzählungen nennen, solche aber, wie jene pwa_257.039 eigentlich gar nicht gekannt haben, grade solche nur Novellen mit pwa_257.040 diesem italiänischen und spanischen Namen. Der ganze Unterschied pwa_257.041 ist ersonnen, wie jener zwischen Ballade und Romanze (S. 99).

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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 257. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/275>, abgerufen am 22.11.2024.