Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_244.001 pwa_244.040 pwa_244.001 pwa_244.040 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0262" n="244"/><lb n="pwa_244.001"/> waltet, in den Thatsachen die belebende und zusammenhaltende <lb n="pwa_244.002"/> Idee zu erkennen, bei denen also auch nicht zu beklagen ist, dass <lb n="pwa_244.003"/> stellenweise diess Bemühen immer ein unfruchtbares bleiben müsse. <lb n="pwa_244.004"/> Solche niedrig gestellte, ideelose Geschichtswerke sind die Annalen <lb n="pwa_244.005"/> oder Chroniken, wie sie bei allen Völkern des Alterthums und bei <lb n="pwa_244.006"/> den neueren als die ersten rudimenta der eigentlichen Geschichtsschreibung <lb n="pwa_244.007"/> vorgekommen sind. Diese Chroniken verzeichnen eben <lb n="pwa_244.008"/> nur, was Jahr für Jahr, sei es in der ganzen Welt, sei es in einer <lb n="pwa_244.009"/> einzelnen Stadt sich ereignet hat: Seuchen, Hungersnoth, Schlachten, <lb n="pwa_244.010"/> Strassentumulte u. dgl., kurz lauter Einzelheiten, deren jede für sich <lb n="pwa_244.011"/> wahr sein mag, die aber keine höhere Wahrheit der Idee zu einem <lb n="pwa_244.012"/> organischen Ganzen verbindet und somit wahrhaft belebt. Solche niedrig <lb n="pwa_244.013"/> gestellte Geschichtswerke sind aber ausserdem noch, damit wir <lb n="pwa_244.014"/> nicht zu vornehm auf die Anfänge der Geschichtsschreibung hinabsehen, <lb n="pwa_244.015"/> bei weitem die meisten, welche die letzten Jahrhunderte an <lb n="pwa_244.016"/> den Tag gefördert haben, auch die meisten, die den vornehmen Titel <lb n="pwa_244.017"/> pragmatisch an der Stirn tragen. Zwar begnügen sich diese nicht <lb n="pwa_244.018"/> mit trockener Aufzählung, zwar suchen sie überall das Spätere durch <lb n="pwa_244.019"/> das Frühere zu motivieren und bei jedem Ereigniss Ursache und Wirkung <lb n="pwa_244.020"/> nachzuweisen: aber diese ursächlichen Verhältnisse sind gewöhnlich <lb n="pwa_244.021"/> der alleräusserlichsten Art, und namentlich herrscht da ein thörichtes, <lb n="pwa_244.022"/> man könnte auch sagen ein frevelhaftes Bestreben, das Allergrösste <lb n="pwa_244.023"/> nicht bloss aus dem Allerkleinsten, sondern auch aus dem <lb n="pwa_244.024"/> Allerkleinlichsten herzuleiten, wenn z. B. der Grund der Kreuzzüge <lb n="pwa_244.025"/> in den Predigten eines Bettelmönches gesucht wird, oder der dreissigjährige <lb n="pwa_244.026"/> Krieg dadurch soll verursacht worden sein, dass man zu Prag <lb n="pwa_244.027"/> einige österreichische Beamte aus dem Fenster warf, oder die französische <lb n="pwa_244.028"/> Revolution durch den ersten Schuss, der am 10. August 1792 <lb n="pwa_244.029"/> fiel; kurz, es gilt da ein so mechanisches, jeder Idee entfremdetes <lb n="pwa_244.030"/> Verfahren, dass man dergleichen Werke eher mit jedem beliebigen <lb n="pwa_244.031"/> anderen Namen als mit dem einer pragmatischen Geschichte belegen <lb n="pwa_244.032"/> kann. In dergleichen Erbärmlichkeiten liegt kein <foreign xml:lang="grc">πρᾶγμα</foreign>: diess Wort <lb n="pwa_244.033"/> bezeichnet ja nicht jedwedes, das geschieht, sondern etwas, das <lb n="pwa_244.034"/> geschieht, weil es geschehen muss, und das wirksam ist, weil es <lb n="pwa_244.035"/> geschieht. Die volle Nothwendigkeit aber und die wahre Wirksamkeit <lb n="pwa_244.036"/> kann sich immer nur vom Standpuncte der Idee ergeben, und deshalb <lb n="pwa_244.037"/> verdient auch nur jene Art von Geschichtsschreibung den Namen der <lb n="pwa_244.038"/> pragmatischen, die wir neben das Epos gestellt haben als Nebenbuhlerin <lb n="pwa_244.039"/> derselben in der Anschauung der Idee.</p> <p><lb n="pwa_244.040"/> Daraus, dass die Geschichtsschreibung innerhalb des Verstandes <lb n="pwa_244.041"/> beharren muss, und somit nicht überall die gegebene Wirklichkeit mit </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [244/0262]
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waltet, in den Thatsachen die belebende und zusammenhaltende pwa_244.002
Idee zu erkennen, bei denen also auch nicht zu beklagen ist, dass pwa_244.003
stellenweise diess Bemühen immer ein unfruchtbares bleiben müsse. pwa_244.004
Solche niedrig gestellte, ideelose Geschichtswerke sind die Annalen pwa_244.005
oder Chroniken, wie sie bei allen Völkern des Alterthums und bei pwa_244.006
den neueren als die ersten rudimenta der eigentlichen Geschichtsschreibung pwa_244.007
vorgekommen sind. Diese Chroniken verzeichnen eben pwa_244.008
nur, was Jahr für Jahr, sei es in der ganzen Welt, sei es in einer pwa_244.009
einzelnen Stadt sich ereignet hat: Seuchen, Hungersnoth, Schlachten, pwa_244.010
Strassentumulte u. dgl., kurz lauter Einzelheiten, deren jede für sich pwa_244.011
wahr sein mag, die aber keine höhere Wahrheit der Idee zu einem pwa_244.012
organischen Ganzen verbindet und somit wahrhaft belebt. Solche niedrig pwa_244.013
gestellte Geschichtswerke sind aber ausserdem noch, damit wir pwa_244.014
nicht zu vornehm auf die Anfänge der Geschichtsschreibung hinabsehen, pwa_244.015
bei weitem die meisten, welche die letzten Jahrhunderte an pwa_244.016
den Tag gefördert haben, auch die meisten, die den vornehmen Titel pwa_244.017
pragmatisch an der Stirn tragen. Zwar begnügen sich diese nicht pwa_244.018
mit trockener Aufzählung, zwar suchen sie überall das Spätere durch pwa_244.019
das Frühere zu motivieren und bei jedem Ereigniss Ursache und Wirkung pwa_244.020
nachzuweisen: aber diese ursächlichen Verhältnisse sind gewöhnlich pwa_244.021
der alleräusserlichsten Art, und namentlich herrscht da ein thörichtes, pwa_244.022
man könnte auch sagen ein frevelhaftes Bestreben, das Allergrösste pwa_244.023
nicht bloss aus dem Allerkleinsten, sondern auch aus dem pwa_244.024
Allerkleinlichsten herzuleiten, wenn z. B. der Grund der Kreuzzüge pwa_244.025
in den Predigten eines Bettelmönches gesucht wird, oder der dreissigjährige pwa_244.026
Krieg dadurch soll verursacht worden sein, dass man zu Prag pwa_244.027
einige österreichische Beamte aus dem Fenster warf, oder die französische pwa_244.028
Revolution durch den ersten Schuss, der am 10. August 1792 pwa_244.029
fiel; kurz, es gilt da ein so mechanisches, jeder Idee entfremdetes pwa_244.030
Verfahren, dass man dergleichen Werke eher mit jedem beliebigen pwa_244.031
anderen Namen als mit dem einer pragmatischen Geschichte belegen pwa_244.032
kann. In dergleichen Erbärmlichkeiten liegt kein πρᾶγμα: diess Wort pwa_244.033
bezeichnet ja nicht jedwedes, das geschieht, sondern etwas, das pwa_244.034
geschieht, weil es geschehen muss, und das wirksam ist, weil es pwa_244.035
geschieht. Die volle Nothwendigkeit aber und die wahre Wirksamkeit pwa_244.036
kann sich immer nur vom Standpuncte der Idee ergeben, und deshalb pwa_244.037
verdient auch nur jene Art von Geschichtsschreibung den Namen der pwa_244.038
pragmatischen, die wir neben das Epos gestellt haben als Nebenbuhlerin pwa_244.039
derselben in der Anschauung der Idee.
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Daraus, dass die Geschichtsschreibung innerhalb des Verstandes pwa_244.041
beharren muss, und somit nicht überall die gegebene Wirklichkeit mit
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