Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_008.001 pwa_008.015 1 pwa_008.033
Raph. Mengs, Gedanken über die Schönheit und den Geschmack in der pwa_008.034 Malerei, S. 69: "Alle Falten haben bei Raphael ihre Ursachen, es sei durch ihr pwa_008.035 eigen Gewicht, oder durch Ziehung der Glieder. Manchmal sieht man in ihnen, pwa_008.036 wie sie vorher gewesen; Raphael hat auch sogar in diesem Bedeutung gesucht. pwa_008.037 Man sieht an den Falten, ob ein Bein, oder Arm, vor dieser Regung, vor oder pwa_008.038 hinten gestanden, ob das Glied von Krümme zur Ausstreckung gegangen, oder pwa_008.039 geht, oder ob es ausgestreckt gewesen und sich krümmte." Vgl. ausserdem, was pwa_008.040 Lessing im Laokoon (XVIII) gegen diese Worte eingewendet, und was Sturz inseinen pwa_008.041 Schriften (1, S. 192) zu ihrer Vertheidigung vorgebracht hat. pwa_008.001 pwa_008.015 1 pwa_008.033
Raph. Mengs, Gedanken über die Schönheit und den Geschmack in der pwa_008.034 Malerei, S. 69: „Alle Falten haben bei Raphael ihre Ursachen, es sei durch ihr pwa_008.035 eigen Gewicht, oder durch Ziehung der Glieder. Manchmal sieht man in ihnen, pwa_008.036 wie sie vorher gewesen; Raphael hat auch sogar in diesem Bedeutung gesucht. pwa_008.037 Man sieht an den Falten, ob ein Bein, oder Arm, vor dieser Regung, vor oder pwa_008.038 hinten gestanden, ob das Glied von Krümme zur Ausstreckung gegangen, oder pwa_008.039 geht, oder ob es ausgestreckt gewesen und sich krümmte.“ Vgl. ausserdem, was pwa_008.040 Lessing im Laokoon (XVIII) gegen diese Worte eingewendet, und was Sturz inseinen pwa_008.041 Schriften (1, S. 192) zu ihrer Vertheidigung vorgebracht hat. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0026" n="8"/><lb n="pwa_008.001"/> und nachfolgende Momente der Thätigkeit schliessen kann, <lb n="pwa_008.002"/> welcher also die Phantasie des letzteren am leichtesten dahin bringt, <lb n="pwa_008.003"/> mit der Phantasie des Künstlers in verwandtschaftlich mitwirkenden <lb n="pwa_008.004"/> Verkehr zu treten. Er wird also wie z. B. der Meister des belvederischen <lb n="pwa_008.005"/> Apollo diesen Gott darstellen, wie er so eben geschossen hat <lb n="pwa_008.006"/> und nun in stolze Ruhe zurückgetreten dem Pfeile nachblickt: denn <lb n="pwa_008.007"/> nun belebt sich dem Anschauenden Alles, und er sieht in Gedanken <lb n="pwa_008.008"/> auch den Drachen, welchem der Pfeil zufliegt. Oder er wird, wie die <lb n="pwa_008.009"/> Maler das wohl verstehen, etwa aus einer blossen Falte des Gewandes <lb n="pwa_008.010"/> errathen lassen<note xml:id="pwa_008_1" place="foot" n="1"><lb n="pwa_008.033"/> Raph. Mengs, Gedanken über die Schönheit und den Geschmack in der <lb n="pwa_008.034"/> Malerei, S. 69: „Alle Falten haben bei Raphael ihre Ursachen, es sei durch ihr <lb n="pwa_008.035"/> eigen Gewicht, oder durch Ziehung der Glieder. Manchmal sieht man in ihnen, <lb n="pwa_008.036"/> wie sie vorher gewesen; Raphael hat auch sogar in diesem Bedeutung gesucht. <lb n="pwa_008.037"/> Man sieht an den Falten, ob ein Bein, oder Arm, vor dieser Regung, vor oder <lb n="pwa_008.038"/> hinten gestanden, ob das Glied von Krümme zur Ausstreckung gegangen, oder <lb n="pwa_008.039"/> geht, oder ob es ausgestreckt gewesen und sich krümmte.“ Vgl. ausserdem, was <lb n="pwa_008.040"/> Lessing im Laokoon (XVIII) gegen diese Worte eingewendet, und was Sturz inseinen <lb n="pwa_008.041"/> Schriften (1, S. 192) zu ihrer Vertheidigung vorgebracht hat.</note>, aus welcher Stellung, welcher Lage oder Bewegung <lb n="pwa_008.011"/> die dargestellte Figur in die momentan fixierte übergegangen sei. Und <lb n="pwa_008.012"/> so kann der bildende Künstler überall einen Fortschritt in der Handlung <lb n="pwa_008.013"/> wohl andeuten, wohl errathen lassen, aber eigentlich darstellen <lb n="pwa_008.014"/> kann er einen solchen nie.</p> <p><lb n="pwa_008.015"/> Grade entgegengesetzt verhält es sich mit dem redenden Künstler, <lb n="pwa_008.016"/> mit dem Dichter. Das Vorwärtsschreiten, das dem bildenden Künstler <lb n="pwa_008.017"/> benommen ist, ist ihm nicht nur gestattet, sondern sogar geboten und <lb n="pwa_008.018"/> unvermeidbar. Sein Material, die Gedanken, die Worte, sind in beständig <lb n="pwa_008.019"/> bewegter Progression. Ein Satz, ein Vers schiebt den andern <lb n="pwa_008.020"/> auf die Seite und stellt ihn in den Schatten der Vergangenheit und <lb n="pwa_008.021"/> halber Vergessenheit; jedes Gedicht, mag es auch gar keinen historischen <lb n="pwa_008.022"/> Stoff behandeln, hat dennoch in sich nothwendiger Weise einen <lb n="pwa_008.023"/> historischen Verlauf. Diess verwehrt dem Dichter jeden Gegenstand, <lb n="pwa_008.024"/> welcher Fixierung eines Momentes verlangen würde: er kann wohl <lb n="pwa_008.025"/> in einer Kreislinie zu dem Punkte zurückkehren, von welchem er ausgegangen, <lb n="pwa_008.026"/> aber von Anfang bis zu Ende eines Gedichtes auf demselben <lb n="pwa_008.027"/> Punkte verweilen, das kann er unmöglich, und versucht er es, <lb n="pwa_008.028"/> so wird er etwas liefern, was keiner Kunst mehr angehört, was kein <lb n="pwa_008.029"/> Kunstwerk, was nicht schön ist: denn er will fixieren, und doch <lb n="pwa_008.030"/> schreiten seine Gedanken, Worte, Verse vorwärts; er will ein Werk <lb n="pwa_008.031"/> der Dichtkunst liefern, und doch gestaltet er seine Anschauung so, <lb n="pwa_008.032"/> wie sie nur der bildende Künstler in seinen Stein, auf seine Leinwand </p> </div> </body> </text> </TEI> [8/0026]
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und nachfolgende Momente der Thätigkeit schliessen kann, pwa_008.002
welcher also die Phantasie des letzteren am leichtesten dahin bringt, pwa_008.003
mit der Phantasie des Künstlers in verwandtschaftlich mitwirkenden pwa_008.004
Verkehr zu treten. Er wird also wie z. B. der Meister des belvederischen pwa_008.005
Apollo diesen Gott darstellen, wie er so eben geschossen hat pwa_008.006
und nun in stolze Ruhe zurückgetreten dem Pfeile nachblickt: denn pwa_008.007
nun belebt sich dem Anschauenden Alles, und er sieht in Gedanken pwa_008.008
auch den Drachen, welchem der Pfeil zufliegt. Oder er wird, wie die pwa_008.009
Maler das wohl verstehen, etwa aus einer blossen Falte des Gewandes pwa_008.010
errathen lassen 1, aus welcher Stellung, welcher Lage oder Bewegung pwa_008.011
die dargestellte Figur in die momentan fixierte übergegangen sei. Und pwa_008.012
so kann der bildende Künstler überall einen Fortschritt in der Handlung pwa_008.013
wohl andeuten, wohl errathen lassen, aber eigentlich darstellen pwa_008.014
kann er einen solchen nie.
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Grade entgegengesetzt verhält es sich mit dem redenden Künstler, pwa_008.016
mit dem Dichter. Das Vorwärtsschreiten, das dem bildenden Künstler pwa_008.017
benommen ist, ist ihm nicht nur gestattet, sondern sogar geboten und pwa_008.018
unvermeidbar. Sein Material, die Gedanken, die Worte, sind in beständig pwa_008.019
bewegter Progression. Ein Satz, ein Vers schiebt den andern pwa_008.020
auf die Seite und stellt ihn in den Schatten der Vergangenheit und pwa_008.021
halber Vergessenheit; jedes Gedicht, mag es auch gar keinen historischen pwa_008.022
Stoff behandeln, hat dennoch in sich nothwendiger Weise einen pwa_008.023
historischen Verlauf. Diess verwehrt dem Dichter jeden Gegenstand, pwa_008.024
welcher Fixierung eines Momentes verlangen würde: er kann wohl pwa_008.025
in einer Kreislinie zu dem Punkte zurückkehren, von welchem er ausgegangen, pwa_008.026
aber von Anfang bis zu Ende eines Gedichtes auf demselben pwa_008.027
Punkte verweilen, das kann er unmöglich, und versucht er es, pwa_008.028
so wird er etwas liefern, was keiner Kunst mehr angehört, was kein pwa_008.029
Kunstwerk, was nicht schön ist: denn er will fixieren, und doch pwa_008.030
schreiten seine Gedanken, Worte, Verse vorwärts; er will ein Werk pwa_008.031
der Dichtkunst liefern, und doch gestaltet er seine Anschauung so, pwa_008.032
wie sie nur der bildende Künstler in seinen Stein, auf seine Leinwand
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Raph. Mengs, Gedanken über die Schönheit und den Geschmack in der pwa_008.034
Malerei, S. 69: „Alle Falten haben bei Raphael ihre Ursachen, es sei durch ihr pwa_008.035
eigen Gewicht, oder durch Ziehung der Glieder. Manchmal sieht man in ihnen, pwa_008.036
wie sie vorher gewesen; Raphael hat auch sogar in diesem Bedeutung gesucht. pwa_008.037
Man sieht an den Falten, ob ein Bein, oder Arm, vor dieser Regung, vor oder pwa_008.038
hinten gestanden, ob das Glied von Krümme zur Ausstreckung gegangen, oder pwa_008.039
geht, oder ob es ausgestreckt gewesen und sich krümmte.“ Vgl. ausserdem, was pwa_008.040
Lessing im Laokoon (XVIII) gegen diese Worte eingewendet, und was Sturz inseinen pwa_008.041
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