Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_225.001 pwa_225.024 pwa_225.001 pwa_225.024 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0243" n="225"/><lb n="pwa_225.001"/> wir würden jene nur ein Schauspiel zu nennen wagen; und <lb n="pwa_225.002"/> ebenso würden wir den Philoctet des Sophocles, die taurische Iphigenie <lb n="pwa_225.003"/> des Euripides nicht Tragödie, sondern wiederum nur Schauspiel <lb n="pwa_225.004"/> betiteln; wie denn auch Göthe seine Iphigenie in der That so betitelt <lb n="pwa_225.005"/> hat. Und die Alten thaten daran ganz recht: denn es ist in der <lb n="pwa_225.006"/> Sache ganz das Gleiche, ob die erregte Wehmuth schon innerhalb <lb n="pwa_225.007"/> des Dramas selbst oder erst nach seiner Vollendung versöhnt wird. <lb n="pwa_225.008"/> Die Hauptsache ist beidemal da, erst die Wehmuth, dann deren Versöhnung. <lb n="pwa_225.009"/> Wir Neueren aber haben uns nach und nach in dem Wahne <lb n="pwa_225.010"/> befestigt, wenn eine Tragödie nicht auf eine gewaltsame Art schliesse, <lb n="pwa_225.011"/> wenn am Ende derselben nicht zum mindesten Eine Leiche auf der <lb n="pwa_225.012"/> Bühne liege, so sei sie auch keine Tragödie; und so haben denn die <lb n="pwa_225.013"/> Deutschen für dergleichen Stücke jene indifferenten Namen <hi rendition="#i">Schauspiel</hi> <lb n="pwa_225.014"/> und <hi rendition="#i">Drama</hi> erwählt, während die Franzosen im sechzehnten und <lb n="pwa_225.015"/> siebenzehnten Jahrhundert und damals zuweilen auch die Deutschen <lb n="pwa_225.016"/> nach einem noch unpasslicheren, dem Namen <hi rendition="#i">Tragicomödie,</hi> gegriffen <lb n="pwa_225.017"/> haben, wie z. B. Corneille für seinen Cid. Dieses Wort ist einmal <lb n="pwa_225.018"/> ebenso falsch gebildet, als wenn man Idolatrie sagt für Idololatrie: es <lb n="pwa_225.019"/> sollte <hi rendition="#i">Tragicocomödie</hi> heissen; sodann aber spricht es aus, dass hier <lb n="pwa_225.020"/> eine Vermischung tragischer und komischer Elemente stattfinde, was <lb n="pwa_225.021"/> nicht der Fall ist. Göthe hätte in der Iphigenie und im Torquato <lb n="pwa_225.022"/> Tasso wohl den Namen Tragödie wagen können, so gut wie Corneille <lb n="pwa_225.023"/> nicht angestanden hat, seinen Cid späterhin Tragödie zu überschreiben.</p> <p><lb n="pwa_225.024"/> Schauspiele dieser Art gehören ganz in die Kategorie des heroischen <lb n="pwa_225.025"/> Trauerspiels. Andre, und deren ist weitaus die grössere Zahl, sind <lb n="pwa_225.026"/> dagegen mit dem bürgerlichen zusammenzustellen. So namentlich die <lb n="pwa_225.027"/> von Iffland und Kotzebue. Und hier wäre in den meisten Fällen der <lb n="pwa_225.028"/> Name der Tragicomödie schon weit eher an seinem Platze. Schon in <lb n="pwa_225.029"/> einem bürgerlichen Trauerspiel mit unglücklicher Katastrophe ist es <lb n="pwa_225.030"/> schwierig, den wahren Zwecken der Tragödie vollkommen zu genügen; <lb n="pwa_225.031"/> ein bürgerliches Stück aber, das nach einer sogenannten tragischen <lb n="pwa_225.032"/> Verwickelung glücklich endigt, muss nun gar untragisch ausfallen. <lb n="pwa_225.033"/> Von einem Widerstreben gegen das Schicksal und von einer Versöhnung <lb n="pwa_225.034"/> mit demselben kann da nicht wohl die Rede sein: es wird Alles <lb n="pwa_225.035"/> hinauskommen auf die Erbärmlichkeiten, womit sich die Alltagsmenschen <lb n="pwa_225.036"/> das Leben unter einander schwer machen, auf einen Kampf mit <lb n="pwa_225.037"/> Neid und Bosheit u. dgl., und die Versöhnung wird zuletzt darin <lb n="pwa_225.038"/> bestehn, dass der Held etwa alle Kabalen glücklich überwindet. Das <lb n="pwa_225.039"/> ist aber offenbar eine Wirklichkeit, die sich weit besser für die <lb n="pwa_225.040"/> Comödie schicken würde, für ihre Auffassung in Spott und Laune. <lb n="pwa_225.041"/> Der Missgriff hat sich auch dadurch gerächt, dass all solche Schauspiele </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [225/0243]
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wir würden jene nur ein Schauspiel zu nennen wagen; und pwa_225.002
ebenso würden wir den Philoctet des Sophocles, die taurische Iphigenie pwa_225.003
des Euripides nicht Tragödie, sondern wiederum nur Schauspiel pwa_225.004
betiteln; wie denn auch Göthe seine Iphigenie in der That so betitelt pwa_225.005
hat. Und die Alten thaten daran ganz recht: denn es ist in der pwa_225.006
Sache ganz das Gleiche, ob die erregte Wehmuth schon innerhalb pwa_225.007
des Dramas selbst oder erst nach seiner Vollendung versöhnt wird. pwa_225.008
Die Hauptsache ist beidemal da, erst die Wehmuth, dann deren Versöhnung. pwa_225.009
Wir Neueren aber haben uns nach und nach in dem Wahne pwa_225.010
befestigt, wenn eine Tragödie nicht auf eine gewaltsame Art schliesse, pwa_225.011
wenn am Ende derselben nicht zum mindesten Eine Leiche auf der pwa_225.012
Bühne liege, so sei sie auch keine Tragödie; und so haben denn die pwa_225.013
Deutschen für dergleichen Stücke jene indifferenten Namen Schauspiel pwa_225.014
und Drama erwählt, während die Franzosen im sechzehnten und pwa_225.015
siebenzehnten Jahrhundert und damals zuweilen auch die Deutschen pwa_225.016
nach einem noch unpasslicheren, dem Namen Tragicomödie, gegriffen pwa_225.017
haben, wie z. B. Corneille für seinen Cid. Dieses Wort ist einmal pwa_225.018
ebenso falsch gebildet, als wenn man Idolatrie sagt für Idololatrie: es pwa_225.019
sollte Tragicocomödie heissen; sodann aber spricht es aus, dass hier pwa_225.020
eine Vermischung tragischer und komischer Elemente stattfinde, was pwa_225.021
nicht der Fall ist. Göthe hätte in der Iphigenie und im Torquato pwa_225.022
Tasso wohl den Namen Tragödie wagen können, so gut wie Corneille pwa_225.023
nicht angestanden hat, seinen Cid späterhin Tragödie zu überschreiben.
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Schauspiele dieser Art gehören ganz in die Kategorie des heroischen pwa_225.025
Trauerspiels. Andre, und deren ist weitaus die grössere Zahl, sind pwa_225.026
dagegen mit dem bürgerlichen zusammenzustellen. So namentlich die pwa_225.027
von Iffland und Kotzebue. Und hier wäre in den meisten Fällen der pwa_225.028
Name der Tragicomödie schon weit eher an seinem Platze. Schon in pwa_225.029
einem bürgerlichen Trauerspiel mit unglücklicher Katastrophe ist es pwa_225.030
schwierig, den wahren Zwecken der Tragödie vollkommen zu genügen; pwa_225.031
ein bürgerliches Stück aber, das nach einer sogenannten tragischen pwa_225.032
Verwickelung glücklich endigt, muss nun gar untragisch ausfallen. pwa_225.033
Von einem Widerstreben gegen das Schicksal und von einer Versöhnung pwa_225.034
mit demselben kann da nicht wohl die Rede sein: es wird Alles pwa_225.035
hinauskommen auf die Erbärmlichkeiten, womit sich die Alltagsmenschen pwa_225.036
das Leben unter einander schwer machen, auf einen Kampf mit pwa_225.037
Neid und Bosheit u. dgl., und die Versöhnung wird zuletzt darin pwa_225.038
bestehn, dass der Held etwa alle Kabalen glücklich überwindet. Das pwa_225.039
ist aber offenbar eine Wirklichkeit, die sich weit besser für die pwa_225.040
Comödie schicken würde, für ihre Auffassung in Spott und Laune. pwa_225.041
Der Missgriff hat sich auch dadurch gerächt, dass all solche Schauspiele
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