pwa_221.001 Blüteperioden der Kunst die Tragiker nie anders verfahren seien. pwa_221.002 Nicht so ist es, noch kann es so sein bei der Comödie. Ihre Wirklichkeit pwa_221.003 liegt in der Gegenwart, nicht in der Vergangenheit; ihre pwa_221.004 Individuen sind auch da, wo sie einen historischen Anschein tragen, pwa_221.005 in der That immer nur Individualisationen. Man kann aber die Personen, pwa_221.006 kann die Charactere nicht von der Handlung trennen, die ja pwa_221.007 immer erst aus dem Wechselstreite des Thuns und des Leidens derselben pwa_221.008 erwächst. Mithin ist, auch was nun diese betrifft, der Lustspieldichter pwa_221.009 auf eben das angewiesen, was dem vollendeten Tragiker verwehrt pwa_221.010 ist, auf freies Erfinden auch der Handlung. Seine Kunst besteht also pwa_221.011 nicht, wie die des Tragikers darin, eine historisch überlieferte Reihenfolge pwa_221.012 von Begebenheiten der Idee und den Characteren der Personen pwa_221.013 gemäss zur Handlung zu gestalten, sondern darin, dass er zu der Idee pwa_221.014 erst die passlichen Personen und Charactere, dann zu beiden, der Idee pwa_221.015 und den Characteren, eine Wirklichkeit von dramatischen Begebenheiten, pwa_221.016 eine Handlung erfinde. Dem Tragiker ist beides gegeben, die pwa_221.017 allgemeine tragische Idee sammt dem besondern historischen Material; pwa_221.018 dem Komiker nur die allgemeine Idee der Comödie: alles Uebrige ist pwa_221.019 seinen Kräften anheimgestellt; und damit ist ihm die Arbeit, je nachdem pwa_221.020 man es ansieht, leichter und schwerer gemacht. Während mithin pwa_221.021 die Tragödie gleich dem Epos vorzugsweise die Erinnerung in Anspruch pwa_221.022 nimmt, und die Phantasie nur in so weit einwirkt, als es darauf ankommt, pwa_221.023 umzugestalten: ist dem Epos grade entgegengesetzt die Comödie lediglich pwa_221.024 auf die Phantasie angewiesen.
pwa_221.025 Diese Freiheit der Phantasie kommt auf der einen Seite den pwa_221.026 Zwecken der Comödie sehr zu Statten: denn erst bei ihr können pwa_221.027 Laune und Spott sich in all ihrem Muthwillen gehn lassen; wie denn pwa_221.028 auch z. B. Aristophanes sich dieses Verhältniss wohl zu Nutze gemacht pwa_221.029 hat, und ebenso Hans Sachs in seinen Fastnachtsspielen und Jacob pwa_221.030 Ayrer in seinen Possenspielen, die reich sind an Situationen, welche pwa_221.031 von der kecksten Phantasie und mit der übermüthigsten Laune hingeworfen pwa_221.032 sind. Auf der andern Seite jedoch muss sich der Lustspieldichter pwa_221.033 wohl vorsehen, dass die Freiheit der Phantasie nicht ausarte pwa_221.034 in Zügellosigkeit; dass sie den Verstand nicht des Antheils beraube, pwa_221.035 der ihm einmal an jeder poetischen Conception gebührt; dass sie keine pwa_221.036 Planlosigkeit und Verwirrung mit sich führe, wie das in den meisten pwa_221.037 Lustspielen von Tieck entweder durchweg oder wenigstens stellenweise pwa_221.038 der Fall ist. Wo aber Phantasie und Verstand sich wohl zu vertragen pwa_221.039 wissen, da machen sie für die Comödie ebendasselbe möglich, was pwa_221.040 sich für die Tragödie nicht recht schicken will, nämlich eine fein und pwa_221.041 reich verschlungene Verwickelung: denn diese ist ja nur zu bewältigen,
pwa_221.001 Blüteperioden der Kunst die Tragiker nie anders verfahren seien. pwa_221.002 Nicht so ist es, noch kann es so sein bei der Comödie. Ihre Wirklichkeit pwa_221.003 liegt in der Gegenwart, nicht in der Vergangenheit; ihre pwa_221.004 Individuen sind auch da, wo sie einen historischen Anschein tragen, pwa_221.005 in der That immer nur Individualisationen. Man kann aber die Personen, pwa_221.006 kann die Charactere nicht von der Handlung trennen, die ja pwa_221.007 immer erst aus dem Wechselstreite des Thuns und des Leidens derselben pwa_221.008 erwächst. Mithin ist, auch was nun diese betrifft, der Lustspieldichter pwa_221.009 auf eben das angewiesen, was dem vollendeten Tragiker verwehrt pwa_221.010 ist, auf freies Erfinden auch der Handlung. Seine Kunst besteht also pwa_221.011 nicht, wie die des Tragikers darin, eine historisch überlieferte Reihenfolge pwa_221.012 von Begebenheiten der Idee und den Characteren der Personen pwa_221.013 gemäss zur Handlung zu gestalten, sondern darin, dass er zu der Idee pwa_221.014 erst die passlichen Personen und Charactere, dann zu beiden, der Idee pwa_221.015 und den Characteren, eine Wirklichkeit von dramatischen Begebenheiten, pwa_221.016 eine Handlung erfinde. Dem Tragiker ist beides gegeben, die pwa_221.017 allgemeine tragische Idee sammt dem besondern historischen Material; pwa_221.018 dem Komiker nur die allgemeine Idee der Comödie: alles Uebrige ist pwa_221.019 seinen Kräften anheimgestellt; und damit ist ihm die Arbeit, je nachdem pwa_221.020 man es ansieht, leichter und schwerer gemacht. Während mithin pwa_221.021 die Tragödie gleich dem Epos vorzugsweise die Erinnerung in Anspruch pwa_221.022 nimmt, und die Phantasie nur in so weit einwirkt, als es darauf ankommt, pwa_221.023 umzugestalten: ist dem Epos grade entgegengesetzt die Comödie lediglich pwa_221.024 auf die Phantasie angewiesen.
pwa_221.025 Diese Freiheit der Phantasie kommt auf der einen Seite den pwa_221.026 Zwecken der Comödie sehr zu Statten: denn erst bei ihr können pwa_221.027 Laune und Spott sich in all ihrem Muthwillen gehn lassen; wie denn pwa_221.028 auch z. B. Aristophanes sich dieses Verhältniss wohl zu Nutze gemacht pwa_221.029 hat, und ebenso Hans Sachs in seinen Fastnachtsspielen und Jacob pwa_221.030 Ayrer in seinen Possenspielen, die reich sind an Situationen, welche pwa_221.031 von der kecksten Phantasie und mit der übermüthigsten Laune hingeworfen pwa_221.032 sind. Auf der andern Seite jedoch muss sich der Lustspieldichter pwa_221.033 wohl vorsehen, dass die Freiheit der Phantasie nicht ausarte pwa_221.034 in Zügellosigkeit; dass sie den Verstand nicht des Antheils beraube, pwa_221.035 der ihm einmal an jeder poetischen Conception gebührt; dass sie keine pwa_221.036 Planlosigkeit und Verwirrung mit sich führe, wie das in den meisten pwa_221.037 Lustspielen von Tieck entweder durchweg oder wenigstens stellenweise pwa_221.038 der Fall ist. Wo aber Phantasie und Verstand sich wohl zu vertragen pwa_221.039 wissen, da machen sie für die Comödie ebendasselbe möglich, was pwa_221.040 sich für die Tragödie nicht recht schicken will, nämlich eine fein und pwa_221.041 reich verschlungene Verwickelung: denn diese ist ja nur zu bewältigen,
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Blüteperioden der Kunst die Tragiker nie anders verfahren seien. pwa_221.002
Nicht so ist es, noch kann es so sein bei der Comödie. Ihre Wirklichkeit pwa_221.003
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Diese Freiheit der Phantasie kommt auf der einen Seite den pwa_221.026
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wohl vorsehen, dass die Freiheit der Phantasie nicht ausarte pwa_221.034
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der ihm einmal an jeder poetischen Conception gebührt; dass sie keine pwa_221.036
Planlosigkeit und Verwirrung mit sich führe, wie das in den meisten pwa_221.037
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der Fall ist. Wo aber Phantasie und Verstand sich wohl zu vertragen pwa_221.039
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reich verschlungene Verwickelung: denn diese ist ja nur zu bewältigen,
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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 221. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/239>, abgerufen am 25.11.2024.
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