Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_220.001 pwa_220.015 pwa_220.034 pwa_220.038 pwa_220.001 pwa_220.015 pwa_220.034 pwa_220.038 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0238" n="220"/><lb n="pwa_220.001"/> und redender Menschen fasste er nun in die Eine Figur des Socrates <lb n="pwa_220.002"/> und unter dessen Namen; das Einzelwesen sollte ihm nur als Umkleidung, <lb n="pwa_220.003"/> als concretere Gestaltung eines allgemeinen Spottes dienen. <lb n="pwa_220.004"/> Daher hatte denn auch der Aristophanische Socrates so wenig gemein <lb n="pwa_220.005"/> mit dem wirklichen; daher konnte der Dichter den Socrates der Bühne <lb n="pwa_220.006"/> so viel Dinge thun und sagen lassen, von denen er sehr wohl wusste, <lb n="pwa_220.007"/> dass der Socrates der Wirklichkeit sie nie gesagt hätte und nie sagen <lb n="pwa_220.008"/> würde. Uebrigens begegnen uns solche scheinbare Individuen eigentlich <lb n="pwa_220.009"/> auch nur in der ältern attischen Comödie: in der mittleren und in der <lb n="pwa_220.010"/> neueren kommen sie kaum mehr vor, theils weil die ältere es in <lb n="pwa_220.011"/> dieser poetischen Licenz mitunter zu weit mochte getrieben haben, <lb n="pwa_220.012"/> theils auch weil dergleichen gar nicht nothwendig zum Wesen der <lb n="pwa_220.013"/> Comödie gehört, weil ja auch auf andern Wegen die allgemeine Art <lb n="pwa_220.014"/> immer noch genügend kann besondert werden.</p> <p><lb n="pwa_220.015"/> Wie wenig es der Comödie auf bestimmte Individuen, wie es ihr <lb n="pwa_220.016"/> dagegen nur auf ganze Arten ankomme, das zeigen recht deutlich <lb n="pwa_220.017"/> andere satirische Lustspiele von Tieck, z. B. der Prinz Zerbino. Hier <lb n="pwa_220.018"/> ist die Satire allerdings gegen mehrere bestimmte Personen jener Zeit <lb n="pwa_220.019"/> gerichtet, gegen Nicolai u. a.: aber Tieck fühlte sehr wohl, dass es <lb n="pwa_220.020"/> dem Wesen des Lustspieles nicht angemessen wäre, diese Personen <lb n="pwa_220.021"/> nun auch ganz in ihrer wirklich gegebenen Individualität aufzufassen: <lb n="pwa_220.022"/> er verallgemeinerte sie demnach so, dass sie als Repräsentanten ganzer <lb n="pwa_220.023"/> Arten gelten konnten; und um sie so verallgemeinern zu dürfen, vertauschte <lb n="pwa_220.024"/> er auch die wirklich gegebenen Namen gegen fingierte, Nicolai <lb n="pwa_220.025"/> gegen Nestor u. s. f. Ein Verfahren, das jenem Aristophanischen grade <lb n="pwa_220.026"/> entgegengesetzt ist oder vielmehr nur entgegengesetzt scheint: denn <lb n="pwa_220.027"/> eigentlich führen beide Wege zu dem gleichen Ziele. Aristophanes <lb n="pwa_220.028"/> gebrauchte den Namen des Socrates und auch diess und jenes <lb n="pwa_220.029"/> von des Socrates Wesen, um darin die ganze Art der ihm widerwärtigen <lb n="pwa_220.030"/> Philosophen zu individualisieren; Tieck warf den Namen <lb n="pwa_220.031"/> Nicolais fort und erweiterte das Wesen desselben so, dass er tauglich <lb n="pwa_220.032"/> wurde zur stellvertretenden Individualisation aller litterarischen <lb n="pwa_220.033"/> Philister.</p> <p><lb n="pwa_220.034"/> Jetzt ein neuer Unterschied zwischen Tragödie und Comödie, der <lb n="pwa_220.035"/> mit dem so eben erörterten auf das engste zusammenhängt und gleich <lb n="pwa_220.036"/> diesem zeigt, um wie vieles entfernter die Comödie von dem Epos <lb n="pwa_220.037"/> sei als die Tragödie.</p> <p><lb n="pwa_220.038"/> Von der Tragödie ist dargethan worden, dass für sie der Dichter <lb n="pwa_220.039"/> die Formen der Anschauung zwar gänzlich erfinden könne, dass er <lb n="pwa_220.040"/> jedoch aus mehr als einem Grunde besser thue, wenn er sich an das <lb n="pwa_220.041"/> von Sage und Geschichte ihm Gebotene anschliesse; dass auch in den </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [220/0238]
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und redender Menschen fasste er nun in die Eine Figur des Socrates pwa_220.002
und unter dessen Namen; das Einzelwesen sollte ihm nur als Umkleidung, pwa_220.003
als concretere Gestaltung eines allgemeinen Spottes dienen. pwa_220.004
Daher hatte denn auch der Aristophanische Socrates so wenig gemein pwa_220.005
mit dem wirklichen; daher konnte der Dichter den Socrates der Bühne pwa_220.006
so viel Dinge thun und sagen lassen, von denen er sehr wohl wusste, pwa_220.007
dass der Socrates der Wirklichkeit sie nie gesagt hätte und nie sagen pwa_220.008
würde. Uebrigens begegnen uns solche scheinbare Individuen eigentlich pwa_220.009
auch nur in der ältern attischen Comödie: in der mittleren und in der pwa_220.010
neueren kommen sie kaum mehr vor, theils weil die ältere es in pwa_220.011
dieser poetischen Licenz mitunter zu weit mochte getrieben haben, pwa_220.012
theils auch weil dergleichen gar nicht nothwendig zum Wesen der pwa_220.013
Comödie gehört, weil ja auch auf andern Wegen die allgemeine Art pwa_220.014
immer noch genügend kann besondert werden.
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Wie wenig es der Comödie auf bestimmte Individuen, wie es ihr pwa_220.016
dagegen nur auf ganze Arten ankomme, das zeigen recht deutlich pwa_220.017
andere satirische Lustspiele von Tieck, z. B. der Prinz Zerbino. Hier pwa_220.018
ist die Satire allerdings gegen mehrere bestimmte Personen jener Zeit pwa_220.019
gerichtet, gegen Nicolai u. a.: aber Tieck fühlte sehr wohl, dass es pwa_220.020
dem Wesen des Lustspieles nicht angemessen wäre, diese Personen pwa_220.021
nun auch ganz in ihrer wirklich gegebenen Individualität aufzufassen: pwa_220.022
er verallgemeinerte sie demnach so, dass sie als Repräsentanten ganzer pwa_220.023
Arten gelten konnten; und um sie so verallgemeinern zu dürfen, vertauschte pwa_220.024
er auch die wirklich gegebenen Namen gegen fingierte, Nicolai pwa_220.025
gegen Nestor u. s. f. Ein Verfahren, das jenem Aristophanischen grade pwa_220.026
entgegengesetzt ist oder vielmehr nur entgegengesetzt scheint: denn pwa_220.027
eigentlich führen beide Wege zu dem gleichen Ziele. Aristophanes pwa_220.028
gebrauchte den Namen des Socrates und auch diess und jenes pwa_220.029
von des Socrates Wesen, um darin die ganze Art der ihm widerwärtigen pwa_220.030
Philosophen zu individualisieren; Tieck warf den Namen pwa_220.031
Nicolais fort und erweiterte das Wesen desselben so, dass er tauglich pwa_220.032
wurde zur stellvertretenden Individualisation aller litterarischen pwa_220.033
Philister.
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Jetzt ein neuer Unterschied zwischen Tragödie und Comödie, der pwa_220.035
mit dem so eben erörterten auf das engste zusammenhängt und gleich pwa_220.036
diesem zeigt, um wie vieles entfernter die Comödie von dem Epos pwa_220.037
sei als die Tragödie.
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Von der Tragödie ist dargethan worden, dass für sie der Dichter pwa_220.039
die Formen der Anschauung zwar gänzlich erfinden könne, dass er pwa_220.040
jedoch aus mehr als einem Grunde besser thue, wenn er sich an das pwa_220.041
von Sage und Geschichte ihm Gebotene anschliesse; dass auch in den
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