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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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historische Treue. Zur Treue ist der Tragiker aber in noch einem pwa_214.002
Puncte verpflichtet, der zugleich Bezug hat auf den Zweck der künstlerischen pwa_214.003
Täuschung, der Illusion. Er soll nämlich das Costüm beobachten, pwa_214.004
diesen Ausdruck im weitesten Sinne genommen, wo er, seinem Grundworte, pwa_214.005
dem lateinischen consuetudo, entsprechend, Alles bezeichnet, pwa_214.006
was gebräuchlich und üblich, was innerhalb einer historisch bestimmten pwa_214.007
Zeit Gebrauch und Sitte im Denken, Handeln und Reden ist, und pwa_214.008
was somit auch zu einer vollständigen und richtigen Veranschaulichung pwa_214.009
jener Zeit und ihrer Personen und Begebenheiten gehört. Das Costüm pwa_214.010
macht sich allerdings entschieden genug geltend bei dramatischer pwa_214.011
Behandlung historischer Stoffe: wählt also z. B. ein Dichter zum Inhalt pwa_214.012
einer Tragödie den Tod Julius Cäsars, so sollen die Schauspieler pwa_214.013
nicht bloss gekleidet sein wie Römer: auch, und noch vielmehr, ja pwa_214.014
zu allervorderst in den Gesinnungen, welche sie darlegen, auch in pwa_214.015
Wort und That sollen sie Römer, und zwar Römer grade jener Zeit pwa_214.016
sein. Das ist eine billige Anforderung.

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Aber auch hier giebt es Mass und Grenze. In Einer Beziehung pwa_214.018
bindet sich kein Dichter an das Costüm, und diese Eine ungetreue pwa_214.019
Abweichung zieht nothwendiger Weise eine Menge anderer nach sich. pwa_214.020
Es ist die, dass der Dramatiker seine Personen, mögen sie auch einer pwa_214.021
längst vergangenen Zeit, einem andern Volke, ja mehreren verschiedenen pwa_214.022
Völkern angehören, dennoch eine und dieselbe Sprache, und pwa_214.023
die Sprache seines Volkes und seiner Zeit reden lässt. Hätte Göthe pwa_214.024
im Egmont das Costüm in der vollen und täuschenden Wirklichkeit pwa_214.025
und Wahrscheinlichkeit beobachten wollen, so durfte natürlich kein pwa_214.026
Wort Deutsch darin vorkommen, und die Einen mussten niederländisch, pwa_214.027
die Andern spanisch sprechen. Hier wird also dem Zuschauer auch pwa_214.028
wieder eine ergänzende und nachhelfende Einbildung zugetraut, und pwa_214.029
die Poesie sucht auch hier ihre Wahrheit in einer andern Sphäre als pwa_214.030
in der gewöhnlichen. Sowie aber einmal der Dichter den Personen pwa_214.031
seines Dramas die Sprache seiner Zeit und seines Volkes in den Mund pwa_214.032
legen muss, so ist es nicht zu vermeiden, dass er ihnen auch mehr pwa_214.033
oder weniger von den Gedanken und Empfindungen seiner Zeit und pwa_214.034
seines Volkes in Kopf und Herz lege, und dass dieselben beide auch pwa_214.035
sonst mannigfach mit ihren Sitten in das Drama hineinspielen. Das pwa_214.036
Mehr oder Weniger hängt lediglich von dem jedesmaligen Stande der pwa_214.037
Bildung ab, von dem Masse historischer Kenntnisse, das Dichter und pwa_214.038
Volk besitzen, und das der Dichter bei seinem Volke voraussetzen pwa_214.039
darf. Je gebildeter das Volk ist, desto historisch treuer darf der pwa_214.040
Dichter sein; zur Treue bis ins Jota hinein wird man es aber schwerlich pwa_214.041
jemals bringen. Wenn jetzo Jemand in einem Julius Cäsar die

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historische Treue. Zur Treue ist der Tragiker aber in noch einem pwa_214.002
Puncte verpflichtet, der zugleich Bezug hat auf den Zweck der künstlerischen pwa_214.003
Täuschung, der Illusion. Er soll nämlich das Costüm beobachten, pwa_214.004
diesen Ausdruck im weitesten Sinne genommen, wo er, seinem Grundworte, pwa_214.005
dem lateinischen consuetudo, entsprechend, Alles bezeichnet, pwa_214.006
was gebräuchlich und üblich, was innerhalb einer historisch bestimmten pwa_214.007
Zeit Gebrauch und Sitte im Denken, Handeln und Reden ist, und pwa_214.008
was somit auch zu einer vollständigen und richtigen Veranschaulichung pwa_214.009
jener Zeit und ihrer Personen und Begebenheiten gehört. Das Costüm pwa_214.010
macht sich allerdings entschieden genug geltend bei dramatischer pwa_214.011
Behandlung historischer Stoffe: wählt also z. B. ein Dichter zum Inhalt pwa_214.012
einer Tragödie den Tod Julius Cäsars, so sollen die Schauspieler pwa_214.013
nicht bloss gekleidet sein wie Römer: auch, und noch vielmehr, ja pwa_214.014
zu allervorderst in den Gesinnungen, welche sie darlegen, auch in pwa_214.015
Wort und That sollen sie Römer, und zwar Römer grade jener Zeit pwa_214.016
sein. Das ist eine billige Anforderung.

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Aber auch hier giebt es Mass und Grenze. In Einer Beziehung pwa_214.018
bindet sich kein Dichter an das Costüm, und diese Eine ungetreue pwa_214.019
Abweichung zieht nothwendiger Weise eine Menge anderer nach sich. pwa_214.020
Es ist die, dass der Dramatiker seine Personen, mögen sie auch einer pwa_214.021
längst vergangenen Zeit, einem andern Volke, ja mehreren verschiedenen pwa_214.022
Völkern angehören, dennoch eine und dieselbe Sprache, und pwa_214.023
die Sprache seines Volkes und seiner Zeit reden lässt. Hätte Göthe pwa_214.024
im Egmont das Costüm in der vollen und täuschenden Wirklichkeit pwa_214.025
und Wahrscheinlichkeit beobachten wollen, so durfte natürlich kein pwa_214.026
Wort Deutsch darin vorkommen, und die Einen mussten niederländisch, pwa_214.027
die Andern spanisch sprechen. Hier wird also dem Zuschauer auch pwa_214.028
wieder eine ergänzende und nachhelfende Einbildung zugetraut, und pwa_214.029
die Poesie sucht auch hier ihre Wahrheit in einer andern Sphäre als pwa_214.030
in der gewöhnlichen. Sowie aber einmal der Dichter den Personen pwa_214.031
seines Dramas die Sprache seiner Zeit und seines Volkes in den Mund pwa_214.032
legen muss, so ist es nicht zu vermeiden, dass er ihnen auch mehr pwa_214.033
oder weniger von den Gedanken und Empfindungen seiner Zeit und pwa_214.034
seines Volkes in Kopf und Herz lege, und dass dieselben beide auch pwa_214.035
sonst mannigfach mit ihren Sitten in das Drama hineinspielen. Das pwa_214.036
Mehr oder Weniger hängt lediglich von dem jedesmaligen Stande der pwa_214.037
Bildung ab, von dem Masse historischer Kenntnisse, das Dichter und pwa_214.038
Volk besitzen, und das der Dichter bei seinem Volke voraussetzen pwa_214.039
darf. Je gebildeter das Volk ist, desto historisch treuer darf der pwa_214.040
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[214/0232] pwa_214.001 historische Treue. Zur Treue ist der Tragiker aber in noch einem pwa_214.002 Puncte verpflichtet, der zugleich Bezug hat auf den Zweck der künstlerischen pwa_214.003 Täuschung, der Illusion. Er soll nämlich das Costüm beobachten, pwa_214.004 diesen Ausdruck im weitesten Sinne genommen, wo er, seinem Grundworte, pwa_214.005 dem lateinischen consuetudo, entsprechend, Alles bezeichnet, pwa_214.006 was gebräuchlich und üblich, was innerhalb einer historisch bestimmten pwa_214.007 Zeit Gebrauch und Sitte im Denken, Handeln und Reden ist, und pwa_214.008 was somit auch zu einer vollständigen und richtigen Veranschaulichung pwa_214.009 jener Zeit und ihrer Personen und Begebenheiten gehört. Das Costüm pwa_214.010 macht sich allerdings entschieden genug geltend bei dramatischer pwa_214.011 Behandlung historischer Stoffe: wählt also z. B. ein Dichter zum Inhalt pwa_214.012 einer Tragödie den Tod Julius Cäsars, so sollen die Schauspieler pwa_214.013 nicht bloss gekleidet sein wie Römer: auch, und noch vielmehr, ja pwa_214.014 zu allervorderst in den Gesinnungen, welche sie darlegen, auch in pwa_214.015 Wort und That sollen sie Römer, und zwar Römer grade jener Zeit pwa_214.016 sein. Das ist eine billige Anforderung. pwa_214.017 Aber auch hier giebt es Mass und Grenze. In Einer Beziehung pwa_214.018 bindet sich kein Dichter an das Costüm, und diese Eine ungetreue pwa_214.019 Abweichung zieht nothwendiger Weise eine Menge anderer nach sich. pwa_214.020 Es ist die, dass der Dramatiker seine Personen, mögen sie auch einer pwa_214.021 längst vergangenen Zeit, einem andern Volke, ja mehreren verschiedenen pwa_214.022 Völkern angehören, dennoch eine und dieselbe Sprache, und pwa_214.023 die Sprache seines Volkes und seiner Zeit reden lässt. Hätte Göthe pwa_214.024 im Egmont das Costüm in der vollen und täuschenden Wirklichkeit pwa_214.025 und Wahrscheinlichkeit beobachten wollen, so durfte natürlich kein pwa_214.026 Wort Deutsch darin vorkommen, und die Einen mussten niederländisch, pwa_214.027 die Andern spanisch sprechen. Hier wird also dem Zuschauer auch pwa_214.028 wieder eine ergänzende und nachhelfende Einbildung zugetraut, und pwa_214.029 die Poesie sucht auch hier ihre Wahrheit in einer andern Sphäre als pwa_214.030 in der gewöhnlichen. Sowie aber einmal der Dichter den Personen pwa_214.031 seines Dramas die Sprache seiner Zeit und seines Volkes in den Mund pwa_214.032 legen muss, so ist es nicht zu vermeiden, dass er ihnen auch mehr pwa_214.033 oder weniger von den Gedanken und Empfindungen seiner Zeit und pwa_214.034 seines Volkes in Kopf und Herz lege, und dass dieselben beide auch pwa_214.035 sonst mannigfach mit ihren Sitten in das Drama hineinspielen. Das pwa_214.036 Mehr oder Weniger hängt lediglich von dem jedesmaligen Stande der pwa_214.037 Bildung ab, von dem Masse historischer Kenntnisse, das Dichter und pwa_214.038 Volk besitzen, und das der Dichter bei seinem Volke voraussetzen pwa_214.039 darf. Je gebildeter das Volk ist, desto historisch treuer darf der pwa_214.040 Dichter sein; zur Treue bis ins Jota hinein wird man es aber schwerlich pwa_214.041 jemals bringen. Wenn jetzo Jemand in einem Julius Cäsar die

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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 214. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/232>, abgerufen am 22.11.2024.