pwa_004.001 auf ihr fusst und beruht der Kunsttrieb; ohne sie kann der Mensch pwa_004.002 unmöglich das Schöne sich zu eigen machen. Wie aber vorher bemerkt pwa_004.003 worden ist, dass verlassen vom Guten und vom Wahren das pwa_004.004 Schöne nicht bestehen könne, so führt denn auch die blosse Einbildungskraft pwa_004.005 nicht zum Ziel: mit ihr allein kann der Mensch niemals pwa_004.006 das Schöne als solches ganz fassen und begreifen, sie allein wird pwa_004.007 seinen Geist ebenso leicht auch mit unschönen und hässlichen Bildern pwa_004.008 anfüllen. Es müssen eben noch die beiden anderen Kräfte wirkend pwa_004.009 dazu treten, das Gefühl und der Verstand. Das Gefühl, natürlich pwa_004.010 hier von seiner höheren geistigen, nicht von der sinnlichen Seite aufgefasst, pwa_004.011 oder wie man es nennt, wenn es nicht bloss jezuweilen angeregt pwa_004.012 wird, sondern in beständig gleich warmer und vorwaltender pwa_004.013 Wirksamkeit bleibt, das Gemüth, entscheidet, je nachdem es angenehm pwa_004.014 oder unangenehm berührt wird, über Lust oder Unlust an den Anschauungen pwa_004.015 der Einbildungskraft: Gefühl und Gemüth sind der sittliche pwa_004.016 Prüfstein der letzteren: denn das Gefühl ist diejenige Seelenkraft, pwa_004.017 welche den Menschen zum Guten treibt; es ist das irdische pwa_004.018 Schattenbild der göttlichen Güte. Wie also die Einbildung dem Kunsttriebe pwa_004.019 und das Gefühl der Sittlichkeit dient, wie jene zum Schönen pwa_004.020 führt, dieses das Schöne als gut erkennen lässt, so dient endlich die pwa_004.021 dritte Kraft, der Verstand, dem Streben nach dem Wahren, dem pwa_004.022 Wissenstriebe; er hat dann auch noch seine Hand anzulegen an die pwa_004.023 von der Einbildung geschaffene, von dem Gefühl genehmigte Anschauung; pwa_004.024 er hat sie auf Wahrheit oder Unwahrheit hin zu prüfen; er hat besonders, pwa_004.025 während die Einbildung auf einmal ein Ganzes giebt, diess pwa_004.026 Ganze in seinen Theilen aufzufassen, und zu untersuchen, ob und wie pwa_004.027 dem Ganzen nichts zur Einheit und Vollkommenheit gebreche, ob pwa_004.028 auch nichts zu viel sei; er nimmt also neben dem Gefühl auch seinen pwa_004.029 Antheil, aber mehr nur einen negativen, an der Entscheidung über pwa_004.030 Schönheit und Unschönheit der ihm vorgelegten Anschauung. Natürlich pwa_004.031 geht die Thätigkeit der drei genannten Kräfte nicht in so langsamer pwa_004.032 Reihenfolge vor sich, wie ihr Stufengang so eben ist beschrieben pwa_004.033 worden: diese drei Stadien werden ebensowohl in Einem Augenblick pwa_004.034 durchlaufen, wie auch der Blitz in einem und demselben Augenblick pwa_004.035 sich entzündet und die Luft durchschneidet und trifft.
pwa_004.036 Grade aber wie es Menschen giebt, bei denen der schöpferische pwa_004.037 Kunsttrieb überwiegt, die also vorzugsweise Künstler, andre, die durch pwa_004.038 Tugend grösser sind, weil in ihnen der Trieb zum Guten vorherrscht, pwa_004.039 andere endlich, die sich in der Wissenschaft auszeichnen, weil in ihnen pwa_004.040 das Streben nach dem Wahren das vorwaltende ist: grade so wirken pwa_004.041 auch bei der Conception des Schönen die genannten drei Seelenkräfte
pwa_004.001 auf ihr fusst und beruht der Kunsttrieb; ohne sie kann der Mensch pwa_004.002 unmöglich das Schöne sich zu eigen machen. Wie aber vorher bemerkt pwa_004.003 worden ist, dass verlassen vom Guten und vom Wahren das pwa_004.004 Schöne nicht bestehen könne, so führt denn auch die blosse Einbildungskraft pwa_004.005 nicht zum Ziel: mit ihr allein kann der Mensch niemals pwa_004.006 das Schöne als solches ganz fassen und begreifen, sie allein wird pwa_004.007 seinen Geist ebenso leicht auch mit unschönen und hässlichen Bildern pwa_004.008 anfüllen. Es müssen eben noch die beiden anderen Kräfte wirkend pwa_004.009 dazu treten, das Gefühl und der Verstand. Das Gefühl, natürlich pwa_004.010 hier von seiner höheren geistigen, nicht von der sinnlichen Seite aufgefasst, pwa_004.011 oder wie man es nennt, wenn es nicht bloss jezuweilen angeregt pwa_004.012 wird, sondern in beständig gleich warmer und vorwaltender pwa_004.013 Wirksamkeit bleibt, das Gemüth, entscheidet, je nachdem es angenehm pwa_004.014 oder unangenehm berührt wird, über Lust oder Unlust an den Anschauungen pwa_004.015 der Einbildungskraft: Gefühl und Gemüth sind der sittliche pwa_004.016 Prüfstein der letzteren: denn das Gefühl ist diejenige Seelenkraft, pwa_004.017 welche den Menschen zum Guten treibt; es ist das irdische pwa_004.018 Schattenbild der göttlichen Güte. Wie also die Einbildung dem Kunsttriebe pwa_004.019 und das Gefühl der Sittlichkeit dient, wie jene zum Schönen pwa_004.020 führt, dieses das Schöne als gut erkennen lässt, so dient endlich die pwa_004.021 dritte Kraft, der Verstand, dem Streben nach dem Wahren, dem pwa_004.022 Wissenstriebe; er hat dann auch noch seine Hand anzulegen an die pwa_004.023 von der Einbildung geschaffene, von dem Gefühl genehmigte Anschauung; pwa_004.024 er hat sie auf Wahrheit oder Unwahrheit hin zu prüfen; er hat besonders, pwa_004.025 während die Einbildung auf einmal ein Ganzes giebt, diess pwa_004.026 Ganze in seinen Theilen aufzufassen, und zu untersuchen, ob und wie pwa_004.027 dem Ganzen nichts zur Einheit und Vollkommenheit gebreche, ob pwa_004.028 auch nichts zu viel sei; er nimmt also neben dem Gefühl auch seinen pwa_004.029 Antheil, aber mehr nur einen negativen, an der Entscheidung über pwa_004.030 Schönheit und Unschönheit der ihm vorgelegten Anschauung. Natürlich pwa_004.031 geht die Thätigkeit der drei genannten Kräfte nicht in so langsamer pwa_004.032 Reihenfolge vor sich, wie ihr Stufengang so eben ist beschrieben pwa_004.033 worden: diese drei Stadien werden ebensowohl in Einem Augenblick pwa_004.034 durchlaufen, wie auch der Blitz in einem und demselben Augenblick pwa_004.035 sich entzündet und die Luft durchschneidet und trifft.
pwa_004.036 Grade aber wie es Menschen giebt, bei denen der schöpferische pwa_004.037 Kunsttrieb überwiegt, die also vorzugsweise Künstler, andre, die durch pwa_004.038 Tugend grösser sind, weil in ihnen der Trieb zum Guten vorherrscht, pwa_004.039 andere endlich, die sich in der Wissenschaft auszeichnen, weil in ihnen pwa_004.040 das Streben nach dem Wahren das vorwaltende ist: grade so wirken pwa_004.041 auch bei der Conception des Schönen die genannten drei Seelenkräfte
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unmöglich das Schöne sich zu eigen machen. Wie aber vorher bemerkt pwa_004.003
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Grade aber wie es Menschen giebt, bei denen der schöpferische pwa_004.037
Kunsttrieb überwiegt, die also vorzugsweise Künstler, andre, die durch pwa_004.038
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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/22>, abgerufen am 25.11.2024.
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