Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_191.001 pwa_191.023 pwa_191.027 pwa_191.037 pwa_191.001 pwa_191.023 pwa_191.027 pwa_191.037 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0209" n="191"/><lb n="pwa_191.001"/> dargelegt und in der Verwickelung sind durch einander gewoben <lb n="pwa_191.002"/> worden. Die Peripetie muss als die reife Frucht erscheinen, die aus <lb n="pwa_191.003"/> der ganzen Handlung, aus der activen oder passiven Thätigkeit der <lb n="pwa_191.004"/> Personen und ihrer Charactere hervortreibt; sie muss vollkommen in <lb n="pwa_191.005"/> ihnen begründet, muss ihr eignes Werk, wenn auch vielleicht ein <lb n="pwa_191.006"/> unbewusst geschaffenes sein. Dagegen wird jedoch nicht selten <lb n="pwa_191.007"/> gefehlt. Nicht selten ist die Exposition so ungeschickt, die Verwickelung <lb n="pwa_191.008"/> so verworren, dass zuletzt der Dichter den Knoten nur noch <lb n="pwa_191.009"/> durch die Gewaltsamkeit einer rein äusserlichen Entscheidung durchzuhauen <lb n="pwa_191.010"/> vermag. Welch ein grosser Unterschied zwischen der innerlichen <lb n="pwa_191.011"/> und der äusserlichen Auflösung bestehe, und wie sehr die wahre <lb n="pwa_191.012"/> dichterische Kunst auf Seite der ersteren sei, erkennt man am besten, <lb n="pwa_191.013"/> wenn man z. B. die beiden taurischen Iphigenien von Euripides und <lb n="pwa_191.014"/> von Göthe vergleicht. Euripides kann sich nur helfen, indem er <lb n="pwa_191.015"/> zuletzt noch die Athene Hand anlegen lässt: bei Göthe ist die ganze <lb n="pwa_191.016"/> Handlung so fest und sicher in sich selbst begründet, die Begebenheiten <lb n="pwa_191.017"/> und die innern Zustände, wie sie gehalten und getragen sind <lb n="pwa_191.018"/> durch die Charactere, haben eine so innige Wechselbeziehung und <lb n="pwa_191.019"/> Wechselwirkung, dass zuletzt kein andrer Ausgang möglich ist, als <lb n="pwa_191.020"/> grade dieser; es macht sich Alles wie von selbst, und der Dichter <lb n="pwa_191.021"/> braucht nicht noch zu guter Letzt über die Handlung hinaus nach einer <lb n="pwa_191.022"/> neuen Person zu greifen, damit er endlich fertig werde.</p> <p><lb n="pwa_191.023"/> Mit dieser Dreigliedrigkeit der Handlung, mit diesem Zerfallen <lb n="pwa_191.024"/> derselben in Exposition, Verwickelung und Auflösung steht in genauer <lb n="pwa_191.025"/> und wesentlicher Verbindung die Zahl der Acte, in welche man das <lb n="pwa_191.026"/> Drama einzutheilen pflegt.</p> <p><lb n="pwa_191.027"/> Acte in unserm Sinn, d. h. Abtheilungen des Dramas, die schon <lb n="pwa_191.028"/> äusserlich bezeichnet werden durch einen Stillstand der Handlung und <lb n="pwa_191.029"/> durch Verhüllung der Bühne, Acte in diesem Sinne des Wortes kannte <lb n="pwa_191.030"/> die ältere griechische Bühne, kannte die Tragödie und die alte Comödie <lb n="pwa_191.031"/> natürlich noch nicht, da der Chor immer auf dem Schauplatze blieb, <lb n="pwa_191.032"/> und er die jeweiligen Unterbrechungen der eigentlichen Handlung <lb n="pwa_191.033"/> durch seinen Gesang ausfüllte, dieser Gesang aber auch immer noch <lb n="pwa_191.034"/> seine Beziehung zu der Handlung hatte. Erst mit der mittleren und <lb n="pwa_191.035"/> jüngern Comödie, die sich des Chors nicht mehr bediente, beginnt <lb n="pwa_191.036"/> die Eintheilung in Acte ganz nach unserer Weise.</p> <p><lb n="pwa_191.037"/> Die Zahl derselben steht also in Verbindung mit jener Dreigliedrigkeit <lb n="pwa_191.038"/> des dramatischen Organismus. Nämlich die Exposition darf <lb n="pwa_191.039"/> in That und Rede sich nicht zu weit ausdehnen; die Auflösung als <lb n="pwa_191.040"/> Gegenstück der Exposition muss ihr ungefähr gleiches Mass halten, sie <lb n="pwa_191.041"/> kann auch schon an sich selbst, da sie ja die abschliessende Concentration </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [191/0209]
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dargelegt und in der Verwickelung sind durch einander gewoben pwa_191.002
worden. Die Peripetie muss als die reife Frucht erscheinen, die aus pwa_191.003
der ganzen Handlung, aus der activen oder passiven Thätigkeit der pwa_191.004
Personen und ihrer Charactere hervortreibt; sie muss vollkommen in pwa_191.005
ihnen begründet, muss ihr eignes Werk, wenn auch vielleicht ein pwa_191.006
unbewusst geschaffenes sein. Dagegen wird jedoch nicht selten pwa_191.007
gefehlt. Nicht selten ist die Exposition so ungeschickt, die Verwickelung pwa_191.008
so verworren, dass zuletzt der Dichter den Knoten nur noch pwa_191.009
durch die Gewaltsamkeit einer rein äusserlichen Entscheidung durchzuhauen pwa_191.010
vermag. Welch ein grosser Unterschied zwischen der innerlichen pwa_191.011
und der äusserlichen Auflösung bestehe, und wie sehr die wahre pwa_191.012
dichterische Kunst auf Seite der ersteren sei, erkennt man am besten, pwa_191.013
wenn man z. B. die beiden taurischen Iphigenien von Euripides und pwa_191.014
von Göthe vergleicht. Euripides kann sich nur helfen, indem er pwa_191.015
zuletzt noch die Athene Hand anlegen lässt: bei Göthe ist die ganze pwa_191.016
Handlung so fest und sicher in sich selbst begründet, die Begebenheiten pwa_191.017
und die innern Zustände, wie sie gehalten und getragen sind pwa_191.018
durch die Charactere, haben eine so innige Wechselbeziehung und pwa_191.019
Wechselwirkung, dass zuletzt kein andrer Ausgang möglich ist, als pwa_191.020
grade dieser; es macht sich Alles wie von selbst, und der Dichter pwa_191.021
braucht nicht noch zu guter Letzt über die Handlung hinaus nach einer pwa_191.022
neuen Person zu greifen, damit er endlich fertig werde.
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Mit dieser Dreigliedrigkeit der Handlung, mit diesem Zerfallen pwa_191.024
derselben in Exposition, Verwickelung und Auflösung steht in genauer pwa_191.025
und wesentlicher Verbindung die Zahl der Acte, in welche man das pwa_191.026
Drama einzutheilen pflegt.
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Acte in unserm Sinn, d. h. Abtheilungen des Dramas, die schon pwa_191.028
äusserlich bezeichnet werden durch einen Stillstand der Handlung und pwa_191.029
durch Verhüllung der Bühne, Acte in diesem Sinne des Wortes kannte pwa_191.030
die ältere griechische Bühne, kannte die Tragödie und die alte Comödie pwa_191.031
natürlich noch nicht, da der Chor immer auf dem Schauplatze blieb, pwa_191.032
und er die jeweiligen Unterbrechungen der eigentlichen Handlung pwa_191.033
durch seinen Gesang ausfüllte, dieser Gesang aber auch immer noch pwa_191.034
seine Beziehung zu der Handlung hatte. Erst mit der mittleren und pwa_191.035
jüngern Comödie, die sich des Chors nicht mehr bediente, beginnt pwa_191.036
die Eintheilung in Acte ganz nach unserer Weise.
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Die Zahl derselben steht also in Verbindung mit jener Dreigliedrigkeit pwa_191.038
des dramatischen Organismus. Nämlich die Exposition darf pwa_191.039
in That und Rede sich nicht zu weit ausdehnen; die Auflösung als pwa_191.040
Gegenstück der Exposition muss ihr ungefähr gleiches Mass halten, sie pwa_191.041
kann auch schon an sich selbst, da sie ja die abschliessende Concentration
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