pwa_189.001 Das schwierigste von diesen drei Gliedern ist überall die Exposition. pwa_189.002 Hier ist es die Sache des Dichters, sich gleichermassen vor pwa_189.003 dem Zuviel und vor dem Zuwenig zu hüten. Ist die Exposition zu pwa_189.004 weitläuftig und zu mannigfaltig, so verwirrt das den Zuhörer oder pwa_189.005 lässt ihn mehr erfahren, als dass er dem weitern Verlaufe noch mit pwa_189.006 dem rechten Interesse folgen sollte. Ist sie kurz, einseitig, dürftig, pwa_189.007 so kann der Zuschauer wieder nicht rechten Fuss fassen; er wird alles pwa_189.008 Folgende nicht wohl begreifen. Die Exposition muss überall das Gegenbild pwa_189.009 der Auflösung sein: sie muss ahnen lassen, aber nicht sagen, was pwa_189.010 diese bestätigt; sie muss die Frage sein, und diese die Antwort darauf.
pwa_189.011 Die Verwickelung sodann kann mannigfacher Art sein: ob sie eine pwa_189.012 mehr oder minder verschlungene ist, hängt natürlich von dem Gehalte pwa_189.013 des historischen Stoffes ab, den der Dichter zur Anschauung bringen pwa_189.014 will, hängt ferner ab von der Zahl der Personen, welche er in die pwa_189.015 Handlung verflicht, von der Mannigfaltigkeit und Bedeutung der Interessen, pwa_189.016 die er kämpfen lässt, von der Beschaffenheit der Auflösung, pwa_189.017 welcher er entgegen arbeitet; namentlich aber davon, ob es eine Tragödie pwa_189.018 ist, die er dichtet, oder eine Comödie. Dem ganzen Wesen pwa_189.019 dieser beiden Gattungen nach hat an der Comödie der Verstand einen pwa_189.020 viel grösseren und viel mehr positiven Antheil als an der Tragödie. pwa_189.021 Gehäufte Verwickelungen sind aber für den producierenden Dichter wie pwa_189.022 für den reproducierenden Zuschauer mehr von Seiten des Verstandes pwa_189.023 durchzuführen und aufzufassen als von Seiten der Einbildung oder gar pwa_189.024 des Gefühles. Somit ist auch die grössere Verwickelung wohl in der pwa_189.025 Comödie an der Stelle, nicht aber in der Tragödie: einer Tragödie pwa_189.026 könnte dergleichen nur schaden. Sie ist in der Comödie also an der pwa_189.027 Stelle, ist zulässig, wird aber auch da nicht gerade gefordert; die pwa_189.028 spanischen Dichter lieben sie. Die kunstvollste Verwickelung aber und pwa_189.029 die wirksamste ist in der Tragödie wie in der Comödie die, welche pwa_189.030 nur für die handelnden Personen, nicht für den Zuschauer eine solche pwa_189.031 ist. Meister darin ist Sophocles: in seinem Oedipus Tyrannus zum pwa_189.032 Beispiel wandelt die Hauptperson immer noch in einer verwirrenden pwa_189.033 und betäubenden Nacht des Geheimnisses, während der Zuschauer das pwa_189.034 Licht schon mehr und mehr empor schimmern sieht und mit ahnendem pwa_189.035 Grauen dem vollen Hereinbrechen desselben entgegen wartet: da ist pwa_189.036 wahrlich ein grösseres und reineres Interesse an Handlung und Handelnden, pwa_189.037 als wo der Zuschauer in die Verwickelung mit verstrickt ist, pwa_189.038 und der Dichter mehr dessen Neugierde spannt, als sein Mitgefühl in pwa_189.039 Anspruch nimmt.
pwa_189.040 Endlich also kommt dann die Auflösung: sie entknüpft oder zerhaut pwa_189.041 all die Verwickelung und lässt in das Dunkel ihren vollen Tag
pwa_189.001 Das schwierigste von diesen drei Gliedern ist überall die Exposition. pwa_189.002 Hier ist es die Sache des Dichters, sich gleichermassen vor pwa_189.003 dem Zuviel und vor dem Zuwenig zu hüten. Ist die Exposition zu pwa_189.004 weitläuftig und zu mannigfaltig, so verwirrt das den Zuhörer oder pwa_189.005 lässt ihn mehr erfahren, als dass er dem weitern Verlaufe noch mit pwa_189.006 dem rechten Interesse folgen sollte. Ist sie kurz, einseitig, dürftig, pwa_189.007 so kann der Zuschauer wieder nicht rechten Fuss fassen; er wird alles pwa_189.008 Folgende nicht wohl begreifen. Die Exposition muss überall das Gegenbild pwa_189.009 der Auflösung sein: sie muss ahnen lassen, aber nicht sagen, was pwa_189.010 diese bestätigt; sie muss die Frage sein, und diese die Antwort darauf.
pwa_189.011 Die Verwickelung sodann kann mannigfacher Art sein: ob sie eine pwa_189.012 mehr oder minder verschlungene ist, hängt natürlich von dem Gehalte pwa_189.013 des historischen Stoffes ab, den der Dichter zur Anschauung bringen pwa_189.014 will, hängt ferner ab von der Zahl der Personen, welche er in die pwa_189.015 Handlung verflicht, von der Mannigfaltigkeit und Bedeutung der Interessen, pwa_189.016 die er kämpfen lässt, von der Beschaffenheit der Auflösung, pwa_189.017 welcher er entgegen arbeitet; namentlich aber davon, ob es eine Tragödie pwa_189.018 ist, die er dichtet, oder eine Comödie. Dem ganzen Wesen pwa_189.019 dieser beiden Gattungen nach hat an der Comödie der Verstand einen pwa_189.020 viel grösseren und viel mehr positiven Antheil als an der Tragödie. pwa_189.021 Gehäufte Verwickelungen sind aber für den producierenden Dichter wie pwa_189.022 für den reproducierenden Zuschauer mehr von Seiten des Verstandes pwa_189.023 durchzuführen und aufzufassen als von Seiten der Einbildung oder gar pwa_189.024 des Gefühles. Somit ist auch die grössere Verwickelung wohl in der pwa_189.025 Comödie an der Stelle, nicht aber in der Tragödie: einer Tragödie pwa_189.026 könnte dergleichen nur schaden. Sie ist in der Comödie also an der pwa_189.027 Stelle, ist zulässig, wird aber auch da nicht gerade gefordert; die pwa_189.028 spanischen Dichter lieben sie. Die kunstvollste Verwickelung aber und pwa_189.029 die wirksamste ist in der Tragödie wie in der Comödie die, welche pwa_189.030 nur für die handelnden Personen, nicht für den Zuschauer eine solche pwa_189.031 ist. Meister darin ist Sophocles: in seinem Oedipus Tyrannus zum pwa_189.032 Beispiel wandelt die Hauptperson immer noch in einer verwirrenden pwa_189.033 und betäubenden Nacht des Geheimnisses, während der Zuschauer das pwa_189.034 Licht schon mehr und mehr empor schimmern sieht und mit ahnendem pwa_189.035 Grauen dem vollen Hereinbrechen desselben entgegen wartet: da ist pwa_189.036 wahrlich ein grösseres und reineres Interesse an Handlung und Handelnden, pwa_189.037 als wo der Zuschauer in die Verwickelung mit verstrickt ist, pwa_189.038 und der Dichter mehr dessen Neugierde spannt, als sein Mitgefühl in pwa_189.039 Anspruch nimmt.
pwa_189.040 Endlich also kommt dann die Auflösung: sie entknüpft oder zerhaut pwa_189.041 all die Verwickelung und lässt in das Dunkel ihren vollen Tag
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Die Verwickelung sodann kann mannigfacher Art sein: ob sie eine pwa_189.012
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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 189. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/207>, abgerufen am 22.11.2024.
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