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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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verfassen, die bald den Namen des Künstlers, bald den Namen oder pwa_139.002
eine characteristische Bezeichnung des dargestellten Gegenstandes angaben pwa_139.003
und dazu noch der Empfindung Ausdruck liehen, die das Kunstwerk pwa_139.004
in dem Beschauer erweckte; dieser Ausdruck erschien nicht selten in pwa_139.005
überraschend witziger Wendung, z. B. in der Form einer Hyperbel: pwa_139.006
alles das beinahe immer zum Lobe des Künstlers. So gab es z. B. pwa_139.007
viele Epigramme auf eines der bewundertsten Kunstwerke des Alterthums, pwa_139.008
die Kuh des Myron. Viele: denn die meisten, ja man kann pwa_139.009
annehmen, fast alle solche Epigramme sind niemals wirklich eingehauene, pwa_139.010
angemalte Inschriften gewesen: sondern es war damit nur pwa_139.011
gemeint, man könnte allenfalls diess darunter setzen. Es ist bei pwa_139.012
manchen auch gar nicht das Kunstwerk als solches, das die Empfindung pwa_139.013
anregt, sondern vielmehr die Persönlichkeit, die Thaten und pwa_139.014
Erlebnisse dessen, den es darstellt. Indem man nun auf diesem Wege pwa_139.015
noch einen Schritt weiter gieng, entstanden Epigramme ohne alle pwa_139.016
Beziehung auf ein Kunstwerk u. s. w., Epigramme vielmehr, die ohne pwa_139.017
irgend eine wirkliche Vermittelung solcher Art sich gradeswegs nur auf pwa_139.018
die historischen Personen, auf Ereignisse, auf Naturgegenstände selbst pwa_139.019
bezogen: das Object der empfindsamen Betrachtung ward für einen pwa_139.020
Augenblick nur gleichsam plastisch oder malerisch fingiert und fixiert. pwa_139.021
Es hat mithin das griechische Epigramm das mit der Elegie gemein, pwa_139.022
dass es gleichfalls von einem historisch gegebenen Object ausgeht, pwa_139.023
also von einer epischen Wirklichkeit, und dass es die Empfindung pwa_139.024
darlegt, welche die Betrachtung jener Wirklichkeit hervorruft, dass pwa_139.025
es also auch auf das epische Element ein lyrisches baut. Aber innerhalb pwa_139.026
dieses Gemeinsamen finden wir bedeutende Unterschiede: die pwa_139.027
Wirklichkeit der Elegie kann eine ausgedehnte, vielgliedrige sein, pwa_139.028
z. B. die ganze politische Gegenwart, eine weithin sich erstreckende pwa_139.029
Landschaft: das Epigramm greift immer nur vereinzelte Puncte heraus, pwa_139.030
Ein Ereigniss, Eine Person, Ein Naturbild. Und während, angemessen pwa_139.031
der breiten epischen Grundlage, die Elegie auch einen weiten pwa_139.032
und breiten Verlauf innerer Zustände entfaltet, gewährt das Epigramm pwa_139.033
nur Einen Zustand, nur Eine Empfindung, keine causal fortlaufende pwa_139.034
Reihe, und auch diese Eine Empfindung wird, weil sie eben so vereinzelt pwa_139.035
dasteht, weniger ausgeführt, als nur leise berührt und angedeutet. pwa_139.036
Und während es der Elegie bei ihrer Ausdehnung vortheilhaft ist, und pwa_139.037
in so fern von ihr gefordert wird, dass sie das epische Element mit pwa_139.038
dem lyrischen verschmelze und verquicke und nicht das eine abgesondert pwa_139.039
neben dem andern herlaufen lasse, ist es dem Epigramm bei pwa_139.040
seiner Einschränkung auf Eine Situation und Eine Empfindung nicht pwa_139.041
nur erlaubt und kaum anders möglich, sondern ihm auch vortheilhaft,

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verfassen, die bald den Namen des Künstlers, bald den Namen oder pwa_139.002
eine characteristische Bezeichnung des dargestellten Gegenstandes angaben pwa_139.003
und dazu noch der Empfindung Ausdruck liehen, die das Kunstwerk pwa_139.004
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überraschend witziger Wendung, z. B. in der Form einer Hyperbel: pwa_139.006
alles das beinahe immer zum Lobe des Künstlers. So gab es z. B. pwa_139.007
viele Epigramme auf eines der bewundertsten Kunstwerke des Alterthums, pwa_139.008
die Kuh des Myron. Viele: denn die meisten, ja man kann pwa_139.009
annehmen, fast alle solche Epigramme sind niemals wirklich eingehauene, pwa_139.010
angemalte Inschriften gewesen: sondern es war damit nur pwa_139.011
gemeint, man könnte allenfalls diess darunter setzen. Es ist bei pwa_139.012
manchen auch gar nicht das Kunstwerk als solches, das die Empfindung pwa_139.013
anregt, sondern vielmehr die Persönlichkeit, die Thaten und pwa_139.014
Erlebnisse dessen, den es darstellt. Indem man nun auf diesem Wege pwa_139.015
noch einen Schritt weiter gieng, entstanden Epigramme ohne alle pwa_139.016
Beziehung auf ein Kunstwerk u. s. w., Epigramme vielmehr, die ohne pwa_139.017
irgend eine wirkliche Vermittelung solcher Art sich gradeswegs nur auf pwa_139.018
die historischen Personen, auf Ereignisse, auf Naturgegenstände selbst pwa_139.019
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Augenblick nur gleichsam plastisch oder malerisch fingiert und fixiert. pwa_139.021
Es hat mithin das griechische Epigramm das mit der Elegie gemein, pwa_139.022
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also von einer epischen Wirklichkeit, und dass es die Empfindung pwa_139.024
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es also auch auf das epische Element ein lyrisches baut. Aber innerhalb pwa_139.026
dieses Gemeinsamen finden wir bedeutende Unterschiede: die pwa_139.027
Wirklichkeit der Elegie kann eine ausgedehnte, vielgliedrige sein, pwa_139.028
z. B. die ganze politische Gegenwart, eine weithin sich erstreckende pwa_139.029
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Ein Ereigniss, Eine Person, Ein Naturbild. Und während, angemessen pwa_139.031
der breiten epischen Grundlage, die Elegie auch einen weiten pwa_139.032
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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 139. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/157>, abgerufen am 22.11.2024.