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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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Bei den Griechen liegen die lyrischen Metra noch um vieles weiter pwa_124.002
ab von den epischen. Die griechische Epik kannte wahrscheinlich die pwa_124.003
Strophen überhaupt gar nicht; wenn sie dieselbe aber kannte, wie pwa_124.004
die neuesten Aufstellungen behaupten, so waren sie jedesfalls höchst pwa_124.005
einfach und bestanden aus lauter ganz gleichen Versen, nämlich Hexametern; pwa_124.006
und auf der andern Seite geht die künstliche Mannigfaltigkeit pwa_124.007
der lyrischen Metra bei den Griechen noch um vieles weiter als bei pwa_124.008
uns, da nicht bloss die Strophen aus verschiedenen Versen, sondern pwa_124.009
auch wieder die Verse aus verschiedenen Füssen zusammengesetzt pwa_124.010
wurden. Weiter können wir hier in Einzelheiten nicht eingehn: es pwa_124.011
ist genug, aufmerksam geworden zu sein, wie sich in diesem pwa_124.012
metrischen Gegensatze zwischen Epik und Lyrik das characteristische pwa_124.013
Verhältniss der äussern metrischen Form zum innern Gehalte scharf pwa_124.014
genug bei uns und noch schärfer bei den Griechen ausgeprägt pwa_124.015
zeige: denn bei den Griechen ist sowohl die Einfachheit der epischen, pwa_124.016
als die Mannigfaltigkeit der lyrischen Form auf das Aeusserste pwa_124.017
getrieben.

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Diese neuen Vergleichungen, bei denen sich wiederum zu gleicher pwa_124.019
Zeit Uebereinstimmung und Verschiedenheit der beiden Dichtungsarten pwa_124.020
erwiesen haben, leiten uns jetzt von neuem darauf hin, das historische pwa_124.021
Verhältniss derselben zu betrachten. Es wird mit wenigen Blicken pwa_124.022
und kurzen Worten abgethan sein, da diess kein Gegenstand ist, den pwa_124.023
wir jetzt zum ersten Mal berühren.

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Die Lyrik ist nicht bloss jünger als die Epik: sie ist aus derselben pwa_124.025
entsprungen. Die lyrisch gefärbte Epik, wie wir sie in den pwa_124.026
Hymnen der Griechen, in den Liedern der Deutschen des zwölften pwa_124.027
Jahrhunderts gefunden haben, begann den Uebergang; er ward weiter pwa_124.028
und der Vollendung entgegen geführt durch solche Dichtungen, in pwa_124.029
denen das lyrische Element bereits das überwiegende ist, die wir pwa_124.030
deshalb im Gegensatz zu jener lyrischen Epik epische Lyrik nennen pwa_124.031
wollen. In der lyrischen Epik wird die geschichtliche Wirklichkeit pwa_124.032
noch durchaus episch, d. h. als eine Vergangenheit aufgefasst: in der pwa_124.033
epischen Lyrik kann sie eine noch unvergangene, vorliegende sein, pwa_124.034
ja es verhält sich gewöhnlich so, da hier das dichterische Individuum pwa_124.035
schon mehr hervortritt und dem Individuum die Geschichte der Gegenwart pwa_124.036
näher liegt und es mit ihr vertrauter und befreundeter ist. Das pwa_124.037
Individuum tritt aber nur mehr hervor als in der lyrischen Epik, pwa_124.038
noch nicht in der ganzen Fülle der Subjectivität und Individualität; pwa_124.039
am deutlichsten zeigt sich das in den beiden Hauptarten der epischen pwa_124.040
Lyrik, die bei den Griechen auf dieser überleitenden Stufe liegen, in pwa_124.041
der Elegie der Ionier und der chorischen Lyrik der Dorier. Wie diese

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Bei den Griechen liegen die lyrischen Metra noch um vieles weiter pwa_124.002
ab von den epischen. Die griechische Epik kannte wahrscheinlich die pwa_124.003
Strophen überhaupt gar nicht; wenn sie dieselbe aber kannte, wie pwa_124.004
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und auf der andern Seite geht die künstliche Mannigfaltigkeit pwa_124.007
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wurden. Weiter können wir hier in Einzelheiten nicht eingehn: es pwa_124.011
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metrischen Gegensatze zwischen Epik und Lyrik das characteristische pwa_124.013
Verhältniss der äussern metrischen Form zum innern Gehalte scharf pwa_124.014
genug bei uns und noch schärfer bei den Griechen ausgeprägt pwa_124.015
zeige: denn bei den Griechen ist sowohl die Einfachheit der epischen, pwa_124.016
als die Mannigfaltigkeit der lyrischen Form auf das Aeusserste pwa_124.017
getrieben.

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Diese neuen Vergleichungen, bei denen sich wiederum zu gleicher pwa_124.019
Zeit Uebereinstimmung und Verschiedenheit der beiden Dichtungsarten pwa_124.020
erwiesen haben, leiten uns jetzt von neuem darauf hin, das historische pwa_124.021
Verhältniss derselben zu betrachten. Es wird mit wenigen Blicken pwa_124.022
und kurzen Worten abgethan sein, da diess kein Gegenstand ist, den pwa_124.023
wir jetzt zum ersten Mal berühren.

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Die Lyrik ist nicht bloss jünger als die Epik: sie ist aus derselben pwa_124.025
entsprungen. Die lyrisch gefärbte Epik, wie wir sie in den pwa_124.026
Hymnen der Griechen, in den Liedern der Deutschen des zwölften pwa_124.027
Jahrhunderts gefunden haben, begann den Uebergang; er ward weiter pwa_124.028
und der Vollendung entgegen geführt durch solche Dichtungen, in pwa_124.029
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deshalb im Gegensatz zu jener lyrischen Epik epische Lyrik nennen pwa_124.031
wollen. In der lyrischen Epik wird die geschichtliche Wirklichkeit pwa_124.032
noch durchaus episch, d. h. als eine Vergangenheit aufgefasst: in der pwa_124.033
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ja es verhält sich gewöhnlich so, da hier das dichterische Individuum pwa_124.035
schon mehr hervortritt und dem Individuum die Geschichte der Gegenwart pwa_124.036
näher liegt und es mit ihr vertrauter und befreundeter ist. Das pwa_124.037
Individuum tritt aber nur mehr hervor als in der lyrischen Epik, pwa_124.038
noch nicht in der ganzen Fülle der Subjectivität und Individualität; pwa_124.039
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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 124. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/142>, abgerufen am 22.11.2024.