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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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versetzt, dass sie die Leidenschaft nicht zu mässigen wissen, dass pwa_121.002
ihnen jenes Mass der Kunst gebricht, ohne welches keine künstlerische pwa_121.003
Anschauung möglich ist. Was aber ausser ihnen geschehen ist, pwa_121.004
das zu erzählen wissen sie ganz wohl: die epische Poesie kann sehr pwa_121.005
wohl unter solchen Menschen und muss zuerst unter ihnen entspringen.

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Bisher haben wir Epik und Lyrik nur betrachtet, inwiefern sie pwa_121.007
auseinandergehn; nun haben wir auch den Punct zu suchen, in welchem pwa_121.008
sich die verschiedenen Richtungen berühren und vereinigen, pwa_121.009
gleichsam den Indifferenzpunct der beiden Polaritäten. Also beide pwa_121.010
zeigen den Dichter in Beziehung auf die Welt ausser ihm, beide pwa_121.011
schliessen sich an die äussere Wirklichkeit, an geschehene Thatsachen pwa_121.012
an; nur jede in eigenthümlicher Weise. Der Epiker macht die äussere pwa_121.013
Wirklichkeit zur Form der angeschauten Idee, er giebt sich ganz den pwa_121.014
Thatsachen hin und erzählt sie, sein Thun gleicht dem transitiven pwa_121.015
Zeitworte mit einem Objectsaccusativ; den Lyriker geht die Welt ausser pwa_121.016
ihm nur in so fern etwas an, als sie auf ihn einwirkt, als irgend ein pwa_121.017
Factum oder sonst irgend etwas, das er ausser sich gewahrt, sein pwa_121.018
Gefühl erregt, sein Thun gleicht einem in sich abgeschlossenen intransitiven pwa_121.019
oder reflexiven, etwa mit einem Genitivus causalis bekleideten pwa_121.020
Zeitwort: in so fern ist aber auch er durchaus von der geschichtlichen pwa_121.021
oder sinnlichen Wirklichkeit abhängig: denn es giebt keine inneren pwa_121.022
Zustände, die nicht ihren wirkenden Grund ausserhalb des Menschen pwa_121.023
in der Geschichte, in der Natur oder in Gott hätten, sollte auch er pwa_121.024
selber sich dessen nicht bewusst sein und keine Rechenschaft darüber pwa_121.025
geben können. Jede lyrische Anschauung hat ihren Anlass ausser pwa_121.026
dem Dichter: ebenso wird sie auch noch durch das Mittel der Darstellung, pwa_121.027
durch die Sprache, unablässig in eine immer wiederholte pwa_121.028
Beziehung zur äusseren Wirklichkeit gebracht. Der Grund aller Sprache pwa_121.029
ist eine durchaus concret sinnliche Auffassung; die innerlichsten Dinge pwa_121.030
benennt sie auf die alleräusserlichste Art, und so kann der Lyriker pwa_121.031
kein Gedicht zu Stande bringen, ohne dass von Anfang bis zu Ende pwa_121.032
seine innern Zustände mit Anschauungen der Aussenwelt umkleidet pwa_121.033
und versinnlicht werden.

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Jene causale Beziehung auf die Aussenwelt ist der Punct, in pwa_121.035
welchem die Lyrik nicht bloss ihrem innern Wesen nach mit der Epik pwa_121.036
zusammenhängt: es ist diess auch der Punct, an welchem sie im Entwickelungsgange pwa_121.037
der Poesie aus der Epik entsprungen und herangewachsen pwa_121.038
ist. Eh wir jedoch diese Betrachtung weiter verfolgen, pwa_121.039
ist zuvor noch eine andre Uebereinstimmung zu besprechen, die zwischen pwa_121.040
Epik und Lyrik besteht und deshalb besteht, weil eben beides pwa_121.041
Poesie ist, d. h. weil beide progressiv anschauen und darstellen. Ein

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versetzt, dass sie die Leidenschaft nicht zu mässigen wissen, dass pwa_121.002
ihnen jenes Mass der Kunst gebricht, ohne welches keine künstlerische pwa_121.003
Anschauung möglich ist. Was aber ausser ihnen geschehen ist, pwa_121.004
das zu erzählen wissen sie ganz wohl: die epische Poesie kann sehr pwa_121.005
wohl unter solchen Menschen und muss zuerst unter ihnen entspringen.

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Bisher haben wir Epik und Lyrik nur betrachtet, inwiefern sie pwa_121.007
auseinandergehn; nun haben wir auch den Punct zu suchen, in welchem pwa_121.008
sich die verschiedenen Richtungen berühren und vereinigen, pwa_121.009
gleichsam den Indifferenzpunct der beiden Polaritäten. Also beide pwa_121.010
zeigen den Dichter in Beziehung auf die Welt ausser ihm, beide pwa_121.011
schliessen sich an die äussere Wirklichkeit, an geschehene Thatsachen pwa_121.012
an; nur jede in eigenthümlicher Weise. Der Epiker macht die äussere pwa_121.013
Wirklichkeit zur Form der angeschauten Idee, er giebt sich ganz den pwa_121.014
Thatsachen hin und erzählt sie, sein Thun gleicht dem transitiven pwa_121.015
Zeitworte mit einem Objectsaccusativ; den Lyriker geht die Welt ausser pwa_121.016
ihm nur in so fern etwas an, als sie auf ihn einwirkt, als irgend ein pwa_121.017
Factum oder sonst irgend etwas, das er ausser sich gewahrt, sein pwa_121.018
Gefühl erregt, sein Thun gleicht einem in sich abgeschlossenen intransitiven pwa_121.019
oder reflexiven, etwa mit einem Genitivus causalis bekleideten pwa_121.020
Zeitwort: in so fern ist aber auch er durchaus von der geschichtlichen pwa_121.021
oder sinnlichen Wirklichkeit abhängig: denn es giebt keine inneren pwa_121.022
Zustände, die nicht ihren wirkenden Grund ausserhalb des Menschen pwa_121.023
in der Geschichte, in der Natur oder in Gott hätten, sollte auch er pwa_121.024
selber sich dessen nicht bewusst sein und keine Rechenschaft darüber pwa_121.025
geben können. Jede lyrische Anschauung hat ihren Anlass ausser pwa_121.026
dem Dichter: ebenso wird sie auch noch durch das Mittel der Darstellung, pwa_121.027
durch die Sprache, unablässig in eine immer wiederholte pwa_121.028
Beziehung zur äusseren Wirklichkeit gebracht. Der Grund aller Sprache pwa_121.029
ist eine durchaus concret sinnliche Auffassung; die innerlichsten Dinge pwa_121.030
benennt sie auf die alleräusserlichste Art, und so kann der Lyriker pwa_121.031
kein Gedicht zu Stande bringen, ohne dass von Anfang bis zu Ende pwa_121.032
seine innern Zustände mit Anschauungen der Aussenwelt umkleidet pwa_121.033
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Jene causale Beziehung auf die Aussenwelt ist der Punct, in pwa_121.035
welchem die Lyrik nicht bloss ihrem innern Wesen nach mit der Epik pwa_121.036
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ist. Eh wir jedoch diese Betrachtung weiter verfolgen, pwa_121.039
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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 121. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/139>, abgerufen am 22.11.2024.