pwa_117.001 Es leuchtet ein, in wie nahem Zusammenhange das Sprichwort pwa_117.002 mit der Fabel steht, und wie es sich wohl schickt, das eine nach pwa_117.003 dem andern abzuhandeln. Die Fabel will irgend eine sittliche Wahrheit pwa_117.004 lehren: das Sprichwort gleichfalls; die Fabel will sie lehren durch pwa_117.005 irgend eine vereinzelte Anschauung aus der Wirklichkeit: das Sprichwort pwa_117.006 gleichfalls. Aber nun kommen auch Unterschiede, die aus der pwa_117.007 practischen Bedeutung hervorgehn, welche das Sprichwort hat: es soll pwa_117.008 schnell in die Rede gemischt, es soll von Jedem gleich gefasst, von pwa_117.009 Jedem leicht und von Allen unverändert können behalten werden, und pwa_117.010 Jeder soll an seine Lehre glauben. Die Fabel fügt der epischen pwa_117.011 Anschauung gern die gemeinte Lehre noch hinzu, dem Concreten das pwa_117.012 Abstracte: das Sprichwort begnügt sich mit dem Concreten und erwartet, pwa_117.013 dass man darein den rechten Sinn legen und es recht gebrauchen pwa_117.014 werde. Die Fabel hat jedesmal eine gewisse epische Beweglichkeit pwa_117.015 und Ausführlichkeit, sei dieselbe auch noch so beschränkt und dürftig; pwa_117.016 und wo sie Parabel wird, ist sie sogar ebenso episch als die eigentlich pwa_117.017 epische Erzählung: das Sprichwort theilt zwar mit der Parabel pwa_117.018 das Gebiet der menschlichen, mit der Fabel das der untermenschlichen pwa_117.019 Wirklichkeit, aber es concentriert die Anschauung derselben bis zu pwa_117.020 einer Kürze, bei welcher zu epischer Ausführlichkeit kein Raum mehr pwa_117.021 bleibt. Und zuletzt, von allen Unterschieden der wichtigste und pwa_117.022 wesentlichste: die Fabel erzählt immer: das Sprichwort kann auch pwa_117.023 erzählen, aber noch öfter stellt es seine Anschauung nicht als eine pwa_117.024 vergangene Thatsache, sondern als eine täglich wiederkehrende Wahrnehmung pwa_117.025 dar; es fasst die Wirklichkeit nicht als eine bewegte und pwa_117.026 immer andere, sondern als eine ruhende und in ihrer Erscheinung pwa_117.027 sich immer wiederholende und gleiche: die Fabel redet stets im Präteritum, pwa_117.028 das Sprichwort lieber im Präsens. Diese letzte hauptsächliche pwa_117.029 Eigenthümlichkeit des Sprichwortes ergiebt sich zumeist aus der pwa_117.030 practischen Bedeutung, die es in Anspruch nimmt: es verlangt überall pwa_117.031 und bei Jedermann zu gelten; Jedermann soll ihm glauben; zu allen pwa_117.032 Zeiten und unter allen Umständen will es die Wahrheit sagen: daher pwa_117.033 diese präsentische Form der wiederholten Wahrnehmung, die nicht pwa_117.034 eine auf die Vergangenheit beschränkte erzählende ist, sondern sich pwa_117.035 über die Gegenwart hin bis in alle Zukunft erstreckt. So gehört denn pwa_117.036 das Sprichwort nur noch zur Hälfte in die Epik; zur Hälfte liegt es pwa_117.037 ausser derselben: es gehört zu ihr, insofern es seine Anschauungen pwa_117.038 auch aus der äussern Wirklichkeit entnimmt; es sondert sich von ihr pwa_117.039 ab, insofern diese Wirklichkeit keine historisch bewegte ist.
pwa_117.040 Bei all dem ist der enge Zusammenhang, der zwischen der Fabel pwa_117.041 und dem Sprichworte besteht, nicht zu verkennen. Zu der innern
pwa_117.001 Es leuchtet ein, in wie nahem Zusammenhange das Sprichwort pwa_117.002 mit der Fabel steht, und wie es sich wohl schickt, das eine nach pwa_117.003 dem andern abzuhandeln. Die Fabel will irgend eine sittliche Wahrheit pwa_117.004 lehren: das Sprichwort gleichfalls; die Fabel will sie lehren durch pwa_117.005 irgend eine vereinzelte Anschauung aus der Wirklichkeit: das Sprichwort pwa_117.006 gleichfalls. Aber nun kommen auch Unterschiede, die aus der pwa_117.007 practischen Bedeutung hervorgehn, welche das Sprichwort hat: es soll pwa_117.008 schnell in die Rede gemischt, es soll von Jedem gleich gefasst, von pwa_117.009 Jedem leicht und von Allen unverändert können behalten werden, und pwa_117.010 Jeder soll an seine Lehre glauben. Die Fabel fügt der epischen pwa_117.011 Anschauung gern die gemeinte Lehre noch hinzu, dem Concreten das pwa_117.012 Abstracte: das Sprichwort begnügt sich mit dem Concreten und erwartet, pwa_117.013 dass man darein den rechten Sinn legen und es recht gebrauchen pwa_117.014 werde. Die Fabel hat jedesmal eine gewisse epische Beweglichkeit pwa_117.015 und Ausführlichkeit, sei dieselbe auch noch so beschränkt und dürftig; pwa_117.016 und wo sie Parabel wird, ist sie sogar ebenso episch als die eigentlich pwa_117.017 epische Erzählung: das Sprichwort theilt zwar mit der Parabel pwa_117.018 das Gebiet der menschlichen, mit der Fabel das der untermenschlichen pwa_117.019 Wirklichkeit, aber es concentriert die Anschauung derselben bis zu pwa_117.020 einer Kürze, bei welcher zu epischer Ausführlichkeit kein Raum mehr pwa_117.021 bleibt. Und zuletzt, von allen Unterschieden der wichtigste und pwa_117.022 wesentlichste: die Fabel erzählt immer: das Sprichwort kann auch pwa_117.023 erzählen, aber noch öfter stellt es seine Anschauung nicht als eine pwa_117.024 vergangene Thatsache, sondern als eine täglich wiederkehrende Wahrnehmung pwa_117.025 dar; es fasst die Wirklichkeit nicht als eine bewegte und pwa_117.026 immer andere, sondern als eine ruhende und in ihrer Erscheinung pwa_117.027 sich immer wiederholende und gleiche: die Fabel redet stets im Präteritum, pwa_117.028 das Sprichwort lieber im Präsens. Diese letzte hauptsächliche pwa_117.029 Eigenthümlichkeit des Sprichwortes ergiebt sich zumeist aus der pwa_117.030 practischen Bedeutung, die es in Anspruch nimmt: es verlangt überall pwa_117.031 und bei Jedermann zu gelten; Jedermann soll ihm glauben; zu allen pwa_117.032 Zeiten und unter allen Umständen will es die Wahrheit sagen: daher pwa_117.033 diese präsentische Form der wiederholten Wahrnehmung, die nicht pwa_117.034 eine auf die Vergangenheit beschränkte erzählende ist, sondern sich pwa_117.035 über die Gegenwart hin bis in alle Zukunft erstreckt. So gehört denn pwa_117.036 das Sprichwort nur noch zur Hälfte in die Epik; zur Hälfte liegt es pwa_117.037 ausser derselben: es gehört zu ihr, insofern es seine Anschauungen pwa_117.038 auch aus der äussern Wirklichkeit entnimmt; es sondert sich von ihr pwa_117.039 ab, insofern diese Wirklichkeit keine historisch bewegte ist.
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Es leuchtet ein, in wie nahem Zusammenhange das Sprichwort pwa_117.002
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dem andern abzuhandeln. Die Fabel will irgend eine sittliche Wahrheit pwa_117.004
lehren: das Sprichwort gleichfalls; die Fabel will sie lehren durch pwa_117.005
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gleichfalls. Aber nun kommen auch Unterschiede, die aus der pwa_117.007
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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 117. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/135>, abgerufen am 25.11.2024.
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