pwa_096.001 In der neueren lyrischen Epik liegen die beiden Elemente pwa_096.002 nur selten so sauber gespalten neben einander da, vielmehr verschwindet pwa_096.003 gewöhnlich das Lyrische vor dem Epischen oder das Epische vor pwa_096.004 dem Lyrischen beinahe ganz. Diese letzte Umgestaltung des epischen pwa_096.005 Nationalgesanges besteht noch bis auf den heutigen Tag, aber auch pwa_096.006 sie schon längst wieder sterbend und absterbend: es sind die deutschen pwa_096.007 Volkslieder. Denn der Gegensatz zwischen gelehrter und volksmässiger pwa_096.008 Poesie, der schon im zwölften Jahrhundert begonnen hatte, pwa_096.009 vollendete sich zu immer grösserer Schärfe, je mehr die geschmacklose pwa_096.010 Gelehrsamkeit und Gelehrtthuerei der Gebildeten und Halbgebildeten pwa_096.011 zunahm; und je unheimlicher es der Poesie unter den Doctoren pwa_096.012 und Handwerksmeistern ward, desto froher war sie, noch eine Zuflucht pwa_096.013 zu finden bei den fahrenden Schüleru und Gesellen, den Hirten, den pwa_096.014 Jägern, den Landsknechten. Hier aber empfieng sie die Gestalt, pwa_096.015 welche die gegebenen Verhältnisse nothwendig mit sich brachten: diese pwa_096.016 Leute befanden sich mitten in der allgemein vorgerückten Civilisation pwa_096.017 immer noch in einem Zustande, der näher an den früheren einfachen pwa_096.018 Naturzustand, aus welchem das altepische Lied erwachsen war, als pwa_096.019 an die neue Bildung grenzte; gleichwohl waren sie, wenn auch nur pwa_096.020 fernab, von Civilisation umgeben; ganz unberührt von der Epik und pwa_096.021 der Lyrik der Gelehrteren konnten sie nicht geblieben sein: und so pwa_096.022 ergab sich denn jene schon vorher bezeichnete neue Mischung beider pwa_096.023 Arten. In mehreren Stücken aber treffen diese Lieder unsers gemeinen pwa_096.024 Manns genau überein mit den Nationalliedern der grauen Vorzeit. pwa_096.025 Einmal, dass auch ihr Inhalt stäts ein ganz einfacher ist, Ein Ereigniss, pwa_096.026 Eine Hauptbegebenheit, nicht deren viele zu einer fortlaufenden pwa_096.027 Reihe aneinander gekettet, wie in der Epopöie. Sodann dass sie pwa_096.028 gleich jenen auch keine Verfasser haben, dass sie vollkommenes Gemeingut pwa_096.029 und darum eine gemeinsame Schöpfung des ganzen niederen pwa_096.030 Volkes sind. Zuerst freilich sind sie immer von Einem ausgegangen: pwa_096.031 aber schon dieser Eine dichtete nicht als Einer, sondern als Glied pwa_096.032 eines grösseren Ganzen; und dieses grössere Ganze arbeitete sofort pwa_096.033 dem ersten Schöpfungswurfe nach. Wir können manche noch lebende pwa_096.034 Volkslieder durch eine Reihe von Textes-Recensionen mehr denn drei pwa_096.035 Jahrhunderte weit zurückverfolgen, und da zeigt sich denn, wie im pwa_096.036 Verlauf der lebendigen Ueberlieferung und Fortpflanzung durch den pwa_096.037 Gesang (denn auch diese gilt hier wie beim ältesten Epos, und der pwa_096.038 Druck ist nur ein untergeordnetes Hilfsmittel), wie im Verlauf der pwa_096.039 mündlichen Ueberlieferung auch der Text leise und allmählich nach pwa_096.040 Zeit und Ort sich umgestaltet hat; wie dasselbe Lied, weil eben das pwa_096.041 ganze Volk überall und immerfort daran dichtet, ein andres ist im
pwa_096.001 In der neueren lyrischen Epik liegen die beiden Elemente pwa_096.002 nur selten so sauber gespalten neben einander da, vielmehr verschwindet pwa_096.003 gewöhnlich das Lyrische vor dem Epischen oder das Epische vor pwa_096.004 dem Lyrischen beinahe ganz. Diese letzte Umgestaltung des epischen pwa_096.005 Nationalgesanges besteht noch bis auf den heutigen Tag, aber auch pwa_096.006 sie schon längst wieder sterbend und absterbend: es sind die deutschen pwa_096.007 Volkslieder. Denn der Gegensatz zwischen gelehrter und volksmässiger pwa_096.008 Poesie, der schon im zwölften Jahrhundert begonnen hatte, pwa_096.009 vollendete sich zu immer grösserer Schärfe, je mehr die geschmacklose pwa_096.010 Gelehrsamkeit und Gelehrtthuerei der Gebildeten und Halbgebildeten pwa_096.011 zunahm; und je unheimlicher es der Poesie unter den Doctoren pwa_096.012 und Handwerksmeistern ward, desto froher war sie, noch eine Zuflucht pwa_096.013 zu finden bei den fahrenden Schüleru und Gesellen, den Hirten, den pwa_096.014 Jägern, den Landsknechten. Hier aber empfieng sie die Gestalt, pwa_096.015 welche die gegebenen Verhältnisse nothwendig mit sich brachten: diese pwa_096.016 Leute befanden sich mitten in der allgemein vorgerückten Civilisation pwa_096.017 immer noch in einem Zustande, der näher an den früheren einfachen pwa_096.018 Naturzustand, aus welchem das altepische Lied erwachsen war, als pwa_096.019 an die neue Bildung grenzte; gleichwohl waren sie, wenn auch nur pwa_096.020 fernab, von Civilisation umgeben; ganz unberührt von der Epik und pwa_096.021 der Lyrik der Gelehrteren konnten sie nicht geblieben sein: und so pwa_096.022 ergab sich denn jene schon vorher bezeichnete neue Mischung beider pwa_096.023 Arten. In mehreren Stücken aber treffen diese Lieder unsers gemeinen pwa_096.024 Manns genau überein mit den Nationalliedern der grauen Vorzeit. pwa_096.025 Einmal, dass auch ihr Inhalt stäts ein ganz einfacher ist, Ein Ereigniss, pwa_096.026 Eine Hauptbegebenheit, nicht deren viele zu einer fortlaufenden pwa_096.027 Reihe aneinander gekettet, wie in der Epopöie. Sodann dass sie pwa_096.028 gleich jenen auch keine Verfasser haben, dass sie vollkommenes Gemeingut pwa_096.029 und darum eine gemeinsame Schöpfung des ganzen niederen pwa_096.030 Volkes sind. Zuerst freilich sind sie immer von Einem ausgegangen: pwa_096.031 aber schon dieser Eine dichtete nicht als Einer, sondern als Glied pwa_096.032 eines grösseren Ganzen; und dieses grössere Ganze arbeitete sofort pwa_096.033 dem ersten Schöpfungswurfe nach. Wir können manche noch lebende pwa_096.034 Volkslieder durch eine Reihe von Textes-Recensionen mehr denn drei pwa_096.035 Jahrhunderte weit zurückverfolgen, und da zeigt sich denn, wie im pwa_096.036 Verlauf der lebendigen Ueberlieferung und Fortpflanzung durch den pwa_096.037 Gesang (denn auch diese gilt hier wie beim ältesten Epos, und der pwa_096.038 Druck ist nur ein untergeordnetes Hilfsmittel), wie im Verlauf der pwa_096.039 mündlichen Ueberlieferung auch der Text leise und allmählich nach pwa_096.040 Zeit und Ort sich umgestaltet hat; wie dasselbe Lied, weil eben das pwa_096.041 ganze Volk überall und immerfort daran dichtet, ein andres ist im
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In der neueren lyrischen Epik liegen die beiden Elemente pwa_096.002
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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/114>, abgerufen am 25.11.2024.
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