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Wackenroder, Wilhelm Heinrich; Tieck, Ludwig: Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders. Berlin, 1797.

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in sich finde. Leonardo ging nie, ohne seine
Schreibtafeln bey sich zu tragen; sein begie¬
riges Auge fand überall ein Opfer für seine
Muse. Dann kann man sagen, daß man
vom Kunstsinne ganz durchglüht und durch¬
drungen sey, wenn man so alles um sich her
seiner Hauptneigung unterthänig macht. Je¬
den kleinen Theil des menschlichen Körpers,
der ihm an irgend einem Vorübergehenden
wohlgefiel, jede flüchtige reizende Stellung
und Wendung haschte er auf, und trug es
seinem Schatze bey. Es gefielen ihm vor¬
züglich wunderliche Angesichter mit besonde¬
ren Haaren und Bärten; weswegen er sol¬
chen Leuten manchmal lange nachging, daß
er sie fest in seinen Sinn faßte, da er sie
alsdann zu Hause so natürlich, als ob sie
ihm gegenwärtig gesessen hätten, hinmahlte.
Auch wann zwey Personen, ohne daß sie
einen Zuschauer zu haben glaubten, ganz

in ſich finde. Leonardo ging nie, ohne ſeine
Schreibtafeln bey ſich zu tragen; ſein begie¬
riges Auge fand überall ein Opfer für ſeine
Muſe. Dann kann man ſagen, daß man
vom Kunſtſinne ganz durchglüht und durch¬
drungen ſey, wenn man ſo alles um ſich her
ſeiner Hauptneigung unterthänig macht. Je¬
den kleinen Theil des menſchlichen Körpers,
der ihm an irgend einem Vorübergehenden
wohlgefiel, jede flüchtige reizende Stellung
und Wendung haſchte er auf, und trug es
ſeinem Schatze bey. Es gefielen ihm vor¬
züglich wunderliche Angeſichter mit beſonde¬
ren Haaren und Bärten; weswegen er ſol¬
chen Leuten manchmal lange nachging, daß
er ſie feſt in ſeinen Sinn faßte, da er ſie
alsdann zu Hauſe ſo natürlich, als ob ſie
ihm gegenwärtig geſeſſen hätten, hinmahlte.
Auch wann zwey Perſonen, ohne daß ſie
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[72/0080] in ſich finde. Leonardo ging nie, ohne ſeine Schreibtafeln bey ſich zu tragen; ſein begie¬ riges Auge fand überall ein Opfer für ſeine Muſe. Dann kann man ſagen, daß man vom Kunſtſinne ganz durchglüht und durch¬ drungen ſey, wenn man ſo alles um ſich her ſeiner Hauptneigung unterthänig macht. Je¬ den kleinen Theil des menſchlichen Körpers, der ihm an irgend einem Vorübergehenden wohlgefiel, jede flüchtige reizende Stellung und Wendung haſchte er auf, und trug es ſeinem Schatze bey. Es gefielen ihm vor¬ züglich wunderliche Angeſichter mit beſonde¬ ren Haaren und Bärten; weswegen er ſol¬ chen Leuten manchmal lange nachging, daß er ſie feſt in ſeinen Sinn faßte, da er ſie alsdann zu Hauſe ſo natürlich, als ob ſie ihm gegenwärtig geſeſſen hätten, hinmahlte. Auch wann zwey Perſonen, ohne daß ſie einen Zuſchauer zu haben glaubten, ganz

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Zitationshilfe: Wackenroder, Wilhelm Heinrich; Tieck, Ludwig: Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders. Berlin, 1797, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackenroder_herzensergiessungen_1797/80>, abgerufen am 26.11.2024.