"Ehe dieser Meister ein Gemählde an¬ fing, dachte er eine lange Zeit vorher dar¬ über nach, und blieb wohl manchmal ganze Tage lang allein in seinem Gemach, bis das Bild in allen kleinsten Theilen vollendet vor seiner Seele stand. Dann war er vergnügt, und sagte: nun ist die Hälfte der Arbeit ge¬ than. Und hatte er einmal zum Pinsel ge¬ griffen, so blieb er wieder den ganzen Tag bey der Stafeley angeheftet, und mochte sich kaum ein paar Minuten zum Essen ab¬ brechen. Er mahlte mit größtem Fleiß und Vollendung, und überall legte er tiefen Aus¬ druck hin. Als einer ihn einmal bereden wollte, sich nicht so abzuquälen, sondern die leichtere Manier anderer Mahler zu ergrei¬ fen, antwortete er ganz kurz: Ich arbeite bloß für mich, und die Vollkommenheit der Kunst. Er konnte nicht begreifen, wie an¬ dre Mahler die größten und wichtigsten
O 2
»Ehe dieſer Meiſter ein Gemählde an¬ fing, dachte er eine lange Zeit vorher dar¬ über nach, und blieb wohl manchmal ganze Tage lang allein in ſeinem Gemach, bis das Bild in allen kleinſten Theilen vollendet vor ſeiner Seele ſtand. Dann war er vergnügt, und ſagte: nun iſt die Hälfte der Arbeit ge¬ than. Und hatte er einmal zum Pinſel ge¬ griffen, ſo blieb er wieder den ganzen Tag bey der Stafeley angeheftet, und mochte ſich kaum ein paar Minuten zum Eſſen ab¬ brechen. Er mahlte mit größtem Fleiß und Vollendung, und überall legte er tiefen Aus¬ druck hin. Als einer ihn einmal bereden wollte, ſich nicht ſo abzuquälen, ſondern die leichtere Manier anderer Mahler zu ergrei¬ fen, antwortete er ganz kurz: Ich arbeite bloß für mich, und die Vollkommenheit der Kunſt. Er konnte nicht begreifen, wie an¬ dre Mahler die größten und wichtigſten
O 2
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0219"n="211"/>
»Ehe dieſer Meiſter ein Gemählde an¬<lb/>
fing, dachte er eine lange Zeit vorher dar¬<lb/>
über nach, und blieb wohl manchmal ganze<lb/>
Tage lang allein in ſeinem Gemach, bis das<lb/>
Bild in allen kleinſten Theilen vollendet vor<lb/>ſeiner Seele ſtand. Dann war er vergnügt,<lb/>
und ſagte: nun iſt die Hälfte der Arbeit ge¬<lb/>
than. Und hatte er einmal zum Pinſel ge¬<lb/>
griffen, ſo blieb er wieder den ganzen Tag<lb/>
bey der Stafeley angeheftet, und mochte<lb/>ſich kaum ein paar Minuten zum Eſſen ab¬<lb/>
brechen. Er mahlte mit größtem Fleiß und<lb/>
Vollendung, und überall legte er tiefen Aus¬<lb/>
druck hin. Als einer ihn einmal bereden<lb/>
wollte, ſich nicht ſo abzuquälen, ſondern die<lb/>
leichtere Manier anderer Mahler zu ergrei¬<lb/>
fen, antwortete er ganz kurz: Ich arbeite<lb/>
bloß für mich, und die Vollkommenheit der<lb/>
Kunſt. Er konnte nicht begreifen, wie an¬<lb/>
dre Mahler die größten und wichtigſten<lb/><fwplace="bottom"type="sig">O 2<lb/></fw></p></div></body></text></TEI>
[211/0219]
»Ehe dieſer Meiſter ein Gemählde an¬
fing, dachte er eine lange Zeit vorher dar¬
über nach, und blieb wohl manchmal ganze
Tage lang allein in ſeinem Gemach, bis das
Bild in allen kleinſten Theilen vollendet vor
ſeiner Seele ſtand. Dann war er vergnügt,
und ſagte: nun iſt die Hälfte der Arbeit ge¬
than. Und hatte er einmal zum Pinſel ge¬
griffen, ſo blieb er wieder den ganzen Tag
bey der Stafeley angeheftet, und mochte
ſich kaum ein paar Minuten zum Eſſen ab¬
brechen. Er mahlte mit größtem Fleiß und
Vollendung, und überall legte er tiefen Aus¬
druck hin. Als einer ihn einmal bereden
wollte, ſich nicht ſo abzuquälen, ſondern die
leichtere Manier anderer Mahler zu ergrei¬
fen, antwortete er ganz kurz: Ich arbeite
bloß für mich, und die Vollkommenheit der
Kunſt. Er konnte nicht begreifen, wie an¬
dre Mahler die größten und wichtigſten
O 2
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Wackenroder, Wilhelm Heinrich; Tieck, Ludwig: Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders. Berlin, 1797, S. 211. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackenroder_herzensergiessungen_1797/219>, abgerufen am 28.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.