Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781.Vierter Gesang. Alda hielten die Götter mich zwanzig Tage; denn niemals 360Wehten günstige Wind' in die See hinüber, die Schiffe Ueber den breiten Rücken des Meeres hinzugeleiten. Und bald wäre die Speis' und der Mut der Männer geschwunden, Hätte mich nicht erbarmend der Himmlischen eine gerettet. Aber Eidothea, des grauen Wogenbeherschers 365 Proteus Tochter bemerkt' es, und fühlte herzliches Mitleid. Diese begegnete mir, da ich fern von den Freunden umherging; Denn sie streiften beständig, vom nagenden Hunger gefoltert, Durch die Insel, um Fische mit krummer Angel zu fangen. Und sie nahte sich mir, und sprach mit freundlicher Stimme: 370 Fremdling, bist du so gar einfältig, oder so träge? Also sprach sie; und ich antwortete wieder, und sagte: 375 Also sprach ich; mir gab die hohe Göttin zur Antwort: Vierter Geſang. Alda hielten die Goͤtter mich zwanzig Tage; denn niemals 360Wehten guͤnſtige Wind' in die See hinuͤber, die Schiffe Ueber den breiten Ruͤcken des Meeres hinzugeleiten. Und bald waͤre die Speiſ' und der Mut der Maͤnner geſchwunden, Haͤtte mich nicht erbarmend der Himmliſchen eine gerettet. Aber Eidothea, des grauen Wogenbeherſchers 365 Proteus Tochter bemerkt' es, und fuͤhlte herzliches Mitleid. Dieſe begegnete mir, da ich fern von den Freunden umherging; Denn ſie ſtreiften beſtaͤndig, vom nagenden Hunger gefoltert, Durch die Inſel, um Fiſche mit krummer Angel zu fangen. Und ſie nahte ſich mir, und ſprach mit freundlicher Stimme: 370 Fremdling, biſt du ſo gar einfaͤltig, oder ſo traͤge? Alſo ſprach ſie; und ich antwortete wieder, und ſagte: 375 Alſo ſprach ich; mir gab die hohe Goͤttin zur Antwort: <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0083" n="77"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Vierter Geſang.</hi></fw><lb/> Alda hielten die Goͤtter mich zwanzig Tage; denn niemals <note place="right">360</note><lb/> Wehten guͤnſtige Wind' in die See hinuͤber, die Schiffe<lb/> Ueber den breiten Ruͤcken des Meeres hinzugeleiten.<lb/> Und bald waͤre die Speiſ' und der Mut der Maͤnner geſchwunden,<lb/> Haͤtte mich nicht erbarmend der Himmliſchen eine gerettet.<lb/> Aber Eidothea, des grauen Wogenbeherſchers <note place="right">365</note><lb/> Proteus Tochter bemerkt' es, und fuͤhlte herzliches Mitleid.<lb/> Dieſe begegnete mir, da ich fern von den Freunden umherging;<lb/> Denn ſie ſtreiften beſtaͤndig, vom nagenden Hunger gefoltert,<lb/> Durch die Inſel, um Fiſche mit krummer Angel zu fangen.<lb/> Und ſie nahte ſich mir, und ſprach mit freundlicher Stimme: <note place="right">370</note></p><lb/> <p>Fremdling, biſt du ſo gar einfaͤltig, oder ſo traͤge?<lb/> Oder zauderſt du gern, und findeſt Vergnuͤgen am Elend:<lb/> Daß du ſo lang auf der Inſel verweilſt? Iſt nirgends ein Ausweg<lb/> Aus dem Jammer zu ſehn, da das Herz den Genoßen entſchwindet?</p><lb/> <p>Alſo ſprach ſie; und ich antwortete wieder, und ſagte: <note place="right">375</note><lb/> Ich verkuͤndige dir, o Goͤttin, wie du auch heißeſt,<lb/> Daß ich mitnichten gerne verweile; ſondern geſuͤndigt<lb/> Hab' ich vielleicht an den Goͤttern, des weiten Himmels Bewohnern.<lb/> Aber ſage mir doch, die Goͤtter wißen ja alles!<lb/> Wer der Unſterblichen haͤlt mich hier auf, und hindert die Reiſe? <note place="right">380</note><lb/> Und wie gelang' ich heim auf dem fiſchdurchwimmelten Meere?</p><lb/> <p>Alſo ſprach ich; mir gab die hohe Goͤttin zur Antwort:<lb/> Gerne will ich, o Fremdling, dir lautere Wahrheit verkuͤnden.<lb/> Hier am Geſtade ſchaltet ein grauer Bewohner des Meeres,<lb/> Proteus, der wahrhafte Gott aus Aiguͤptos, welcher des Meeres <note place="right">385</note><lb/> Dunkle Tiefen kennt, ein treuer Diener Poſeidons.<lb/> Dieſer iſt, wie man ſagt, mein Vater, der mich gezeuget.<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [77/0083]
Vierter Geſang.
Alda hielten die Goͤtter mich zwanzig Tage; denn niemals
Wehten guͤnſtige Wind' in die See hinuͤber, die Schiffe
Ueber den breiten Ruͤcken des Meeres hinzugeleiten.
Und bald waͤre die Speiſ' und der Mut der Maͤnner geſchwunden,
Haͤtte mich nicht erbarmend der Himmliſchen eine gerettet.
Aber Eidothea, des grauen Wogenbeherſchers
Proteus Tochter bemerkt' es, und fuͤhlte herzliches Mitleid.
Dieſe begegnete mir, da ich fern von den Freunden umherging;
Denn ſie ſtreiften beſtaͤndig, vom nagenden Hunger gefoltert,
Durch die Inſel, um Fiſche mit krummer Angel zu fangen.
Und ſie nahte ſich mir, und ſprach mit freundlicher Stimme:
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Fremdling, biſt du ſo gar einfaͤltig, oder ſo traͤge?
Oder zauderſt du gern, und findeſt Vergnuͤgen am Elend:
Daß du ſo lang auf der Inſel verweilſt? Iſt nirgends ein Ausweg
Aus dem Jammer zu ſehn, da das Herz den Genoßen entſchwindet?
Alſo ſprach ſie; und ich antwortete wieder, und ſagte:
Ich verkuͤndige dir, o Goͤttin, wie du auch heißeſt,
Daß ich mitnichten gerne verweile; ſondern geſuͤndigt
Hab' ich vielleicht an den Goͤttern, des weiten Himmels Bewohnern.
Aber ſage mir doch, die Goͤtter wißen ja alles!
Wer der Unſterblichen haͤlt mich hier auf, und hindert die Reiſe?
Und wie gelang' ich heim auf dem fiſchdurchwimmelten Meere?
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Alſo ſprach ich; mir gab die hohe Goͤttin zur Antwort:
Gerne will ich, o Fremdling, dir lautere Wahrheit verkuͤnden.
Hier am Geſtade ſchaltet ein grauer Bewohner des Meeres,
Proteus, der wahrhafte Gott aus Aiguͤptos, welcher des Meeres
Dunkle Tiefen kennt, ein treuer Diener Poſeidons.
Dieſer iſt, wie man ſagt, mein Vater, der mich gezeuget.
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