Alda hielten die Götter mich zwanzig Tage; denn niemals 360 Wehten günstige Wind' in die See hinüber, die Schiffe Ueber den breiten Rücken des Meeres hinzugeleiten. Und bald wäre die Speis' und der Mut der Männer geschwunden, Hätte mich nicht erbarmend der Himmlischen eine gerettet. Aber Eidothea, des grauen Wogenbeherschers 365 Proteus Tochter bemerkt' es, und fühlte herzliches Mitleid. Diese begegnete mir, da ich fern von den Freunden umherging; Denn sie streiften beständig, vom nagenden Hunger gefoltert, Durch die Insel, um Fische mit krummer Angel zu fangen. Und sie nahte sich mir, und sprach mit freundlicher Stimme: 370
Fremdling, bist du so gar einfältig, oder so träge? Oder zauderst du gern, und findest Vergnügen am Elend: Daß du so lang auf der Insel verweilst? Ist nirgends ein Ausweg Aus dem Jammer zu sehn, da das Herz den Genoßen entschwindet?
Also sprach sie; und ich antwortete wieder, und sagte: 375 Ich verkündige dir, o Göttin, wie du auch heißest, Daß ich mitnichten gerne verweile; sondern gesündigt Hab' ich vielleicht an den Göttern, des weiten Himmels Bewohnern. Aber sage mir doch, die Götter wißen ja alles! Wer der Unsterblichen hält mich hier auf, und hindert die Reise? 380 Und wie gelang' ich heim auf dem fischdurchwimmelten Meere?
Also sprach ich; mir gab die hohe Göttin zur Antwort: Gerne will ich, o Fremdling, dir lautere Wahrheit verkünden. Hier am Gestade schaltet ein grauer Bewohner des Meeres, Proteus, der wahrhafte Gott aus Aigüptos, welcher des Meeres 385 Dunkle Tiefen kennt, ein treuer Diener Poseidons. Dieser ist, wie man sagt, mein Vater, der mich gezeuget.
Vierter Geſang.
Alda hielten die Goͤtter mich zwanzig Tage; denn niemals 360 Wehten guͤnſtige Wind' in die See hinuͤber, die Schiffe Ueber den breiten Ruͤcken des Meeres hinzugeleiten. Und bald waͤre die Speiſ' und der Mut der Maͤnner geſchwunden, Haͤtte mich nicht erbarmend der Himmliſchen eine gerettet. Aber Eidothea, des grauen Wogenbeherſchers 365 Proteus Tochter bemerkt' es, und fuͤhlte herzliches Mitleid. Dieſe begegnete mir, da ich fern von den Freunden umherging; Denn ſie ſtreiften beſtaͤndig, vom nagenden Hunger gefoltert, Durch die Inſel, um Fiſche mit krummer Angel zu fangen. Und ſie nahte ſich mir, und ſprach mit freundlicher Stimme: 370
Fremdling, biſt du ſo gar einfaͤltig, oder ſo traͤge? Oder zauderſt du gern, und findeſt Vergnuͤgen am Elend: Daß du ſo lang auf der Inſel verweilſt? Iſt nirgends ein Ausweg Aus dem Jammer zu ſehn, da das Herz den Genoßen entſchwindet?
Alſo ſprach ſie; und ich antwortete wieder, und ſagte: 375 Ich verkuͤndige dir, o Goͤttin, wie du auch heißeſt, Daß ich mitnichten gerne verweile; ſondern geſuͤndigt Hab' ich vielleicht an den Goͤttern, des weiten Himmels Bewohnern. Aber ſage mir doch, die Goͤtter wißen ja alles! Wer der Unſterblichen haͤlt mich hier auf, und hindert die Reiſe? 380 Und wie gelang' ich heim auf dem fiſchdurchwimmelten Meere?
Alſo ſprach ich; mir gab die hohe Goͤttin zur Antwort: Gerne will ich, o Fremdling, dir lautere Wahrheit verkuͤnden. Hier am Geſtade ſchaltet ein grauer Bewohner des Meeres, Proteus, der wahrhafte Gott aus Aiguͤptos, welcher des Meeres 385 Dunkle Tiefen kennt, ein treuer Diener Poſeidons. Dieſer iſt, wie man ſagt, mein Vater, der mich gezeuget.
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0083"n="77"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Vierter Geſang.</hi></fw><lb/>
Alda hielten die Goͤtter mich zwanzig Tage; denn niemals <noteplace="right">360</note><lb/>
Wehten guͤnſtige Wind' in die See hinuͤber, die Schiffe<lb/>
Ueber den breiten Ruͤcken des Meeres hinzugeleiten.<lb/>
Und bald waͤre die Speiſ' und der Mut der Maͤnner geſchwunden,<lb/>
Haͤtte mich nicht erbarmend der Himmliſchen eine gerettet.<lb/>
Aber Eidothea, des grauen Wogenbeherſchers <noteplace="right">365</note><lb/>
Proteus Tochter bemerkt' es, und fuͤhlte herzliches Mitleid.<lb/>
Dieſe begegnete mir, da ich fern von den Freunden umherging;<lb/>
Denn ſie ſtreiften beſtaͤndig, vom nagenden Hunger gefoltert,<lb/>
Durch die Inſel, um Fiſche mit krummer Angel zu fangen.<lb/>
Und ſie nahte ſich mir, und ſprach mit freundlicher Stimme: <noteplace="right">370</note></p><lb/><p>Fremdling, biſt du ſo gar einfaͤltig, oder ſo traͤge?<lb/>
Oder zauderſt du gern, und findeſt Vergnuͤgen am Elend:<lb/>
Daß du ſo lang auf der Inſel verweilſt? Iſt nirgends ein Ausweg<lb/>
Aus dem Jammer zu ſehn, da das Herz den Genoßen entſchwindet?</p><lb/><p>Alſo ſprach ſie; und ich antwortete wieder, und ſagte: <noteplace="right">375</note><lb/>
Ich verkuͤndige dir, o Goͤttin, wie du auch heißeſt,<lb/>
Daß ich mitnichten gerne verweile; ſondern geſuͤndigt<lb/>
Hab' ich vielleicht an den Goͤttern, des weiten Himmels Bewohnern.<lb/>
Aber ſage mir doch, die Goͤtter wißen ja alles!<lb/>
Wer der Unſterblichen haͤlt mich hier auf, und hindert die Reiſe? <noteplace="right">380</note><lb/>
Und wie gelang' ich heim auf dem fiſchdurchwimmelten Meere?</p><lb/><p>Alſo ſprach ich; mir gab die hohe Goͤttin zur Antwort:<lb/>
Gerne will ich, o Fremdling, dir lautere Wahrheit verkuͤnden.<lb/>
Hier am Geſtade ſchaltet ein grauer Bewohner des Meeres,<lb/>
Proteus, der wahrhafte Gott aus Aiguͤptos, welcher des Meeres <noteplace="right">385</note><lb/>
Dunkle Tiefen kennt, ein treuer Diener Poſeidons.<lb/>
Dieſer iſt, wie man ſagt, mein Vater, der mich gezeuget.<lb/></p></div></body></text></TEI>
[77/0083]
Vierter Geſang.
Alda hielten die Goͤtter mich zwanzig Tage; denn niemals
Wehten guͤnſtige Wind' in die See hinuͤber, die Schiffe
Ueber den breiten Ruͤcken des Meeres hinzugeleiten.
Und bald waͤre die Speiſ' und der Mut der Maͤnner geſchwunden,
Haͤtte mich nicht erbarmend der Himmliſchen eine gerettet.
Aber Eidothea, des grauen Wogenbeherſchers
Proteus Tochter bemerkt' es, und fuͤhlte herzliches Mitleid.
Dieſe begegnete mir, da ich fern von den Freunden umherging;
Denn ſie ſtreiften beſtaͤndig, vom nagenden Hunger gefoltert,
Durch die Inſel, um Fiſche mit krummer Angel zu fangen.
Und ſie nahte ſich mir, und ſprach mit freundlicher Stimme:
360
365
370
Fremdling, biſt du ſo gar einfaͤltig, oder ſo traͤge?
Oder zauderſt du gern, und findeſt Vergnuͤgen am Elend:
Daß du ſo lang auf der Inſel verweilſt? Iſt nirgends ein Ausweg
Aus dem Jammer zu ſehn, da das Herz den Genoßen entſchwindet?
Alſo ſprach ſie; und ich antwortete wieder, und ſagte:
Ich verkuͤndige dir, o Goͤttin, wie du auch heißeſt,
Daß ich mitnichten gerne verweile; ſondern geſuͤndigt
Hab' ich vielleicht an den Goͤttern, des weiten Himmels Bewohnern.
Aber ſage mir doch, die Goͤtter wißen ja alles!
Wer der Unſterblichen haͤlt mich hier auf, und hindert die Reiſe?
Und wie gelang' ich heim auf dem fiſchdurchwimmelten Meere?
375
380
Alſo ſprach ich; mir gab die hohe Goͤttin zur Antwort:
Gerne will ich, o Fremdling, dir lautere Wahrheit verkuͤnden.
Hier am Geſtade ſchaltet ein grauer Bewohner des Meeres,
Proteus, der wahrhafte Gott aus Aiguͤptos, welcher des Meeres
Dunkle Tiefen kennt, ein treuer Diener Poſeidons.
Dieſer iſt, wie man ſagt, mein Vater, der mich gezeuget.
385
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/83>, abgerufen am 22.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.