Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781.

Bild:
<< vorherige Seite

Dreiundzwanzigster Gesang.
Jezo liegen sie alle gehäuft an der Pforte des Hofes;
Und er reinigt mit Schwefel bei angezündetem Feuer 50
Seinen prächtigen Saal; und sendet mich her, dich zu rufen.
Folge mir denn, damit ihr die lieben Herzen einander
Wieder mit Freuden erfüllt, nachdem ihr so vieles erduldet.
Nun ist ja endlich geschehn, was ihr so lange gewünscht habt:
Lebend kehret er heim zum Vaterheerde, und findet 55
Dich und den Sohn im Palast; und alle, die ihn beleidigt,
Alle Freier vertilgt die schreckliche Rache des Königs.

Ihr antwortete drauf die kluge Pänelopeia:
Liebe Mutter, du must nicht so frohlocken und jauchzen!
Ach! du weißt ja, wie herzlicherwünscht er allen im Hause 60
Käme, vor allen mir, und unserm einzigen Sohne!
Aber es ist unmöglich geschehen, wie du erzählest!
Einer der Himmlischen hat die stolzen Freier getödtet,
Durch die Gräuel gereizt und die seelenkränkende Bosheit!
Denn sie ehrten ja keinen von allen Erdebewohnern, 65
Vornehm oder geringe, wer auch um Erbarmen sie ansprach:
Darum strafte sie Gott, die Freveler! Aber Odüßeus,
Fern von Achaia verlor er die Heimkehr, ach! und sein Leben!

Ihr antwortete drauf die Pflegerin Eurükleia:
Welche Rede, mein Kind, ist deinen Lippen entflohen! 70
Dein Gemahl, der schon unten am Heerde sizt, der kehret
Nimmer nach Hause zurück? O wie gar ungläubig dein Herz ist!
Nun so sag' ich dir jezt ein entscheidendes Merkmal, die Narbe,
Die ein Eber ihm einst mit weißem Zahne gehauen.
Beim Fußwaschen nahm ich sie wahr, und wollt' es dir selber 75
Sagen; allein er faßte mir schnell mit der Hand an die Gurgel;

Dreiundzwanzigſter Geſang.
Jezo liegen ſie alle gehaͤuft an der Pforte des Hofes;
Und er reinigt mit Schwefel bei angezuͤndetem Feuer 50
Seinen praͤchtigen Saal; und ſendet mich her, dich zu rufen.
Folge mir denn, damit ihr die lieben Herzen einander
Wieder mit Freuden erfuͤllt, nachdem ihr ſo vieles erduldet.
Nun iſt ja endlich geſchehn, was ihr ſo lange gewuͤnſcht habt:
Lebend kehret er heim zum Vaterheerde, und findet 55
Dich und den Sohn im Palaſt; und alle, die ihn beleidigt,
Alle Freier vertilgt die ſchreckliche Rache des Koͤnigs.

Ihr antwortete drauf die kluge Paͤnelopeia:
Liebe Mutter, du muſt nicht ſo frohlocken und jauchzen!
Ach! du weißt ja, wie herzlicherwuͤnſcht er allen im Hauſe 60
Kaͤme, vor allen mir, und unſerm einzigen Sohne!
Aber es iſt unmoͤglich geſchehen, wie du erzaͤhleſt!
Einer der Himmliſchen hat die ſtolzen Freier getoͤdtet,
Durch die Graͤuel gereizt und die ſeelenkraͤnkende Bosheit!
Denn ſie ehrten ja keinen von allen Erdebewohnern, 65
Vornehm oder geringe, wer auch um Erbarmen ſie anſprach:
Darum ſtrafte ſie Gott, die Freveler! Aber Oduͤßeus,
Fern von Achaia verlor er die Heimkehr, ach! und ſein Leben!

Ihr antwortete drauf die Pflegerin Euruͤkleia:
Welche Rede, mein Kind, iſt deinen Lippen entflohen! 70
Dein Gemahl, der ſchon unten am Heerde ſizt, der kehret
Nimmer nach Hauſe zuruͤck? O wie gar unglaͤubig dein Herz iſt!
Nun ſo ſag' ich dir jezt ein entſcheidendes Merkmal, die Narbe,
Die ein Eber ihm einſt mit weißem Zahne gehauen.
Beim Fußwaſchen nahm ich ſie wahr, und wollt' es dir ſelber 75
Sagen; allein er faßte mir ſchnell mit der Hand an die Gurgel;

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0443" n="437"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Dreiundzwanzig&#x017F;ter Ge&#x017F;ang.</hi></fw><lb/>
Jezo liegen &#x017F;ie alle geha&#x0364;uft an der Pforte des Hofes;<lb/>
Und er reinigt mit Schwefel bei angezu&#x0364;ndetem Feuer <note place="right">50</note><lb/>
Seinen pra&#x0364;chtigen Saal; und &#x017F;endet mich her, dich zu rufen.<lb/>
Folge mir denn, damit ihr die lieben Herzen einander<lb/>
Wieder mit Freuden erfu&#x0364;llt, nachdem ihr &#x017F;o vieles erduldet.<lb/>
Nun i&#x017F;t ja endlich ge&#x017F;chehn, was ihr &#x017F;o lange gewu&#x0364;n&#x017F;cht habt:<lb/>
Lebend kehret er heim zum Vaterheerde, und findet <note place="right">55</note><lb/>
Dich und den Sohn im Pala&#x017F;t; und alle, die ihn beleidigt,<lb/>
Alle Freier vertilgt die &#x017F;chreckliche Rache des Ko&#x0364;nigs.</p><lb/>
        <p>Ihr antwortete drauf die kluge Pa&#x0364;nelopeia:<lb/>
Liebe Mutter, du mu&#x017F;t nicht &#x017F;o frohlocken und jauchzen!<lb/>
Ach! du weißt ja, wie herzlicherwu&#x0364;n&#x017F;cht er allen im Hau&#x017F;e <note place="right">60</note><lb/>
Ka&#x0364;me, vor allen mir, und un&#x017F;erm einzigen Sohne!<lb/>
Aber es i&#x017F;t unmo&#x0364;glich ge&#x017F;chehen, wie du erza&#x0364;hle&#x017F;t!<lb/>
Einer der Himmli&#x017F;chen hat die &#x017F;tolzen Freier geto&#x0364;dtet,<lb/>
Durch die Gra&#x0364;uel gereizt und die &#x017F;eelenkra&#x0364;nkende Bosheit!<lb/>
Denn &#x017F;ie ehrten ja keinen von allen Erdebewohnern, <note place="right">65</note><lb/>
Vornehm oder geringe, wer auch um Erbarmen &#x017F;ie an&#x017F;prach:<lb/>
Darum &#x017F;trafte &#x017F;ie Gott, die Freveler! Aber Odu&#x0364;ßeus,<lb/>
Fern von Achaia verlor er die Heimkehr, ach! und &#x017F;ein Leben!</p><lb/>
        <p>Ihr antwortete drauf die Pflegerin Euru&#x0364;kleia:<lb/>
Welche Rede, mein Kind, i&#x017F;t deinen Lippen entflohen! <note place="right">70</note><lb/>
Dein Gemahl, der &#x017F;chon unten am Heerde &#x017F;izt, der kehret<lb/>
Nimmer nach Hau&#x017F;e zuru&#x0364;ck? O wie gar ungla&#x0364;ubig dein Herz i&#x017F;t!<lb/>
Nun &#x017F;o &#x017F;ag' ich dir jezt ein ent&#x017F;cheidendes Merkmal, die Narbe,<lb/>
Die ein Eber ihm ein&#x017F;t mit weißem Zahne gehauen.<lb/>
Beim Fußwa&#x017F;chen nahm ich &#x017F;ie wahr, und wollt' es dir &#x017F;elber <note place="right">75</note><lb/>
Sagen; allein er faßte mir &#x017F;chnell mit der Hand an die Gurgel;<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[437/0443] Dreiundzwanzigſter Geſang. Jezo liegen ſie alle gehaͤuft an der Pforte des Hofes; Und er reinigt mit Schwefel bei angezuͤndetem Feuer Seinen praͤchtigen Saal; und ſendet mich her, dich zu rufen. Folge mir denn, damit ihr die lieben Herzen einander Wieder mit Freuden erfuͤllt, nachdem ihr ſo vieles erduldet. Nun iſt ja endlich geſchehn, was ihr ſo lange gewuͤnſcht habt: Lebend kehret er heim zum Vaterheerde, und findet Dich und den Sohn im Palaſt; und alle, die ihn beleidigt, Alle Freier vertilgt die ſchreckliche Rache des Koͤnigs. 50 55 Ihr antwortete drauf die kluge Paͤnelopeia: Liebe Mutter, du muſt nicht ſo frohlocken und jauchzen! Ach! du weißt ja, wie herzlicherwuͤnſcht er allen im Hauſe Kaͤme, vor allen mir, und unſerm einzigen Sohne! Aber es iſt unmoͤglich geſchehen, wie du erzaͤhleſt! Einer der Himmliſchen hat die ſtolzen Freier getoͤdtet, Durch die Graͤuel gereizt und die ſeelenkraͤnkende Bosheit! Denn ſie ehrten ja keinen von allen Erdebewohnern, Vornehm oder geringe, wer auch um Erbarmen ſie anſprach: Darum ſtrafte ſie Gott, die Freveler! Aber Oduͤßeus, Fern von Achaia verlor er die Heimkehr, ach! und ſein Leben! 60 65 Ihr antwortete drauf die Pflegerin Euruͤkleia: Welche Rede, mein Kind, iſt deinen Lippen entflohen! Dein Gemahl, der ſchon unten am Heerde ſizt, der kehret Nimmer nach Hauſe zuruͤck? O wie gar unglaͤubig dein Herz iſt! Nun ſo ſag' ich dir jezt ein entſcheidendes Merkmal, die Narbe, Die ein Eber ihm einſt mit weißem Zahne gehauen. Beim Fußwaſchen nahm ich ſie wahr, und wollt' es dir ſelber Sagen; allein er faßte mir ſchnell mit der Hand an die Gurgel; 70 75

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/443
Zitationshilfe: Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781, S. 437. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/443>, abgerufen am 25.11.2024.