Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781.

Bild:
<< vorherige Seite

Odüßee.
Mutter, über den Bogen hat keiner von allen Achaiern
Macht, als ich: wenn ich will, ihn zu geben oder zu weigern; 345
Keiner von allen, die hier in der felsichten Ithaka herschen,
Oder die nahe wohnen der roßeweidenden Aelis!
Keiner von allen soll mit Gewalt mich hindern; und wollt' ich
Diesen Bogen dem Fremdling auch ganz zum Eigenthum schenken!
Aber gehe nun heim, besorge deine Geschäfte, 350
Spindel und Webestuhl, und treib an beschiedener Arbeit
Deine Mägde zum Fleiß! Der Bogen gebühret den Männern,
Und vor allen mir; denn mein ist die Herschaft im Hause!

Staunend kehrte die Mutter zurück in ihre Gemächer,
Und erwog im Herzen die kluge Rede des Sohnes. 355
Als sie nun oben kam mit den Jungfraun, weinte sie wieder
Ihren trauten Gemahl Odüßeus, bis ihr Athänä
Sanft mit süßem Schlummer die Augenlieder bedeckte.

Jezo nahm er den Bogen und ging, der trefliche Sauhirt;
Aber die Freier fuhren ihn alle mit lautem Geschrei an. 360
Unter dem Schwarme begann ein übermütiger Jüngling:

Halt! wohin mit dem Bogen, du niederträchtiger Sauhirt?
Rasender! Ha! bald sollen dein Aas bei den Schweinen die Hunde,
Die du selber ernährt, von den Menschen ferne, zerreißen;
Wenn Apollon uns hilft und die andern unsterblichen Götter! 365

Also rufte der Schwarm; und der Tragende legte den Bogen
Dort auf der Stelle hin, aus Furcht vor dem Schelten der Freier.
Aber Tälemachos rief auf der andern Seite die Drohung:

Du! bring weiter den Bogen! Du sollst mir nicht allen gehorchen!
Oder ich jage dich gleich mit geworfenen Steinen zu Felde, 370
Ob ich gleich jünger bin; an Kräften bin ich doch stärker!

Oduͤßee.
Mutter, uͤber den Bogen hat keiner von allen Achaiern
Macht, als ich: wenn ich will, ihn zu geben oder zu weigern; 345
Keiner von allen, die hier in der felſichten Ithaka herſchen,
Oder die nahe wohnen der roßeweidenden Aelis!
Keiner von allen ſoll mit Gewalt mich hindern; und wollt' ich
Dieſen Bogen dem Fremdling auch ganz zum Eigenthum ſchenken!
Aber gehe nun heim, beſorge deine Geſchaͤfte, 350
Spindel und Webeſtuhl, und treib an beſchiedener Arbeit
Deine Maͤgde zum Fleiß! Der Bogen gebuͤhret den Maͤnnern,
Und vor allen mir; denn mein iſt die Herſchaft im Hauſe!

Staunend kehrte die Mutter zuruͤck in ihre Gemaͤcher,
Und erwog im Herzen die kluge Rede des Sohnes. 355
Als ſie nun oben kam mit den Jungfraun, weinte ſie wieder
Ihren trauten Gemahl Oduͤßeus, bis ihr Athaͤnaͤ
Sanft mit ſuͤßem Schlummer die Augenlieder bedeckte.

Jezo nahm er den Bogen und ging, der trefliche Sauhirt;
Aber die Freier fuhren ihn alle mit lautem Geſchrei an. 360
Unter dem Schwarme begann ein uͤbermuͤtiger Juͤngling:

Halt! wohin mit dem Bogen, du niedertraͤchtiger Sauhirt?
Raſender! Ha! bald ſollen dein Aas bei den Schweinen die Hunde,
Die du ſelber ernaͤhrt, von den Menſchen ferne, zerreißen;
Wenn Apollon uns hilft und die andern unſterblichen Goͤtter! 365

Alſo rufte der Schwarm; und der Tragende legte den Bogen
Dort auf der Stelle hin, aus Furcht vor dem Schelten der Freier.
Aber Taͤlemachos rief auf der andern Seite die Drohung:

Du! bring weiter den Bogen! Du ſollſt mir nicht allen gehorchen!
Oder ich jage dich gleich mit geworfenen Steinen zu Felde, 370
Ob ich gleich juͤnger bin; an Kraͤften bin ich doch ſtaͤrker!

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0418" n="412"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Odu&#x0364;ßee.</hi></fw><lb/>
Mutter, u&#x0364;ber den Bogen hat keiner von allen Achaiern<lb/>
Macht, als ich: wenn ich will, ihn zu geben oder zu weigern; <note place="right">345</note><lb/>
Keiner von allen, die hier in der fel&#x017F;ichten Ithaka her&#x017F;chen,<lb/>
Oder die nahe wohnen der roßeweidenden Aelis!<lb/>
Keiner von allen &#x017F;oll mit Gewalt mich hindern; und wollt' ich<lb/>
Die&#x017F;en Bogen dem Fremdling auch ganz zum Eigenthum &#x017F;chenken!<lb/>
Aber gehe nun heim, be&#x017F;orge deine Ge&#x017F;cha&#x0364;fte, <note place="right">350</note><lb/>
Spindel und Webe&#x017F;tuhl, und treib an be&#x017F;chiedener Arbeit<lb/>
Deine Ma&#x0364;gde zum Fleiß! Der Bogen gebu&#x0364;hret den Ma&#x0364;nnern,<lb/>
Und vor allen mir; denn mein i&#x017F;t die Her&#x017F;chaft im Hau&#x017F;e!</p><lb/>
        <p>Staunend kehrte die Mutter zuru&#x0364;ck in ihre Gema&#x0364;cher,<lb/>
Und erwog im Herzen die kluge Rede des Sohnes. <note place="right">355</note><lb/>
Als &#x017F;ie nun oben kam mit den Jungfraun, weinte &#x017F;ie wieder<lb/>
Ihren trauten Gemahl Odu&#x0364;ßeus, bis ihr Atha&#x0364;na&#x0364;<lb/>
Sanft mit &#x017F;u&#x0364;ßem Schlummer die Augenlieder bedeckte.</p><lb/>
        <p>Jezo nahm er den Bogen und ging, der trefliche Sauhirt;<lb/>
Aber die Freier fuhren ihn alle mit lautem Ge&#x017F;chrei an. <note place="right">360</note><lb/>
Unter dem Schwarme begann ein u&#x0364;bermu&#x0364;tiger Ju&#x0364;ngling:</p><lb/>
        <p>Halt! wohin mit dem Bogen, du niedertra&#x0364;chtiger Sauhirt?<lb/>
Ra&#x017F;ender! Ha! bald &#x017F;ollen dein Aas bei den Schweinen die Hunde,<lb/>
Die du &#x017F;elber erna&#x0364;hrt, von den Men&#x017F;chen ferne, zerreißen;<lb/>
Wenn Apollon uns hilft und die andern un&#x017F;terblichen Go&#x0364;tter! <note place="right">365</note></p><lb/>
        <p>Al&#x017F;o rufte der Schwarm; und der Tragende legte den Bogen<lb/>
Dort auf der Stelle hin, aus Furcht vor dem Schelten der Freier.<lb/>
Aber Ta&#x0364;lemachos rief auf der andern Seite die Drohung:</p><lb/>
        <p>Du! bring weiter den Bogen! Du &#x017F;oll&#x017F;t mir nicht allen gehorchen!<lb/>
Oder ich jage dich gleich mit geworfenen Steinen zu Felde, <note place="right">370</note><lb/>
Ob ich gleich ju&#x0364;nger bin; an Kra&#x0364;ften bin ich doch &#x017F;ta&#x0364;rker!<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[412/0418] Oduͤßee. Mutter, uͤber den Bogen hat keiner von allen Achaiern Macht, als ich: wenn ich will, ihn zu geben oder zu weigern; Keiner von allen, die hier in der felſichten Ithaka herſchen, Oder die nahe wohnen der roßeweidenden Aelis! Keiner von allen ſoll mit Gewalt mich hindern; und wollt' ich Dieſen Bogen dem Fremdling auch ganz zum Eigenthum ſchenken! Aber gehe nun heim, beſorge deine Geſchaͤfte, Spindel und Webeſtuhl, und treib an beſchiedener Arbeit Deine Maͤgde zum Fleiß! Der Bogen gebuͤhret den Maͤnnern, Und vor allen mir; denn mein iſt die Herſchaft im Hauſe! 345 350 Staunend kehrte die Mutter zuruͤck in ihre Gemaͤcher, Und erwog im Herzen die kluge Rede des Sohnes. Als ſie nun oben kam mit den Jungfraun, weinte ſie wieder Ihren trauten Gemahl Oduͤßeus, bis ihr Athaͤnaͤ Sanft mit ſuͤßem Schlummer die Augenlieder bedeckte. 355 Jezo nahm er den Bogen und ging, der trefliche Sauhirt; Aber die Freier fuhren ihn alle mit lautem Geſchrei an. Unter dem Schwarme begann ein uͤbermuͤtiger Juͤngling: 360 Halt! wohin mit dem Bogen, du niedertraͤchtiger Sauhirt? Raſender! Ha! bald ſollen dein Aas bei den Schweinen die Hunde, Die du ſelber ernaͤhrt, von den Menſchen ferne, zerreißen; Wenn Apollon uns hilft und die andern unſterblichen Goͤtter! 365 Alſo rufte der Schwarm; und der Tragende legte den Bogen Dort auf der Stelle hin, aus Furcht vor dem Schelten der Freier. Aber Taͤlemachos rief auf der andern Seite die Drohung: Du! bring weiter den Bogen! Du ſollſt mir nicht allen gehorchen! Oder ich jage dich gleich mit geworfenen Steinen zu Felde, Ob ich gleich juͤnger bin; an Kraͤften bin ich doch ſtaͤrker! 370

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/418
Zitationshilfe: Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781, S. 412. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/418>, abgerufen am 25.11.2024.