Dieser nahm den Bogen und schnellen Pfeil von der Erde, Stellte sich drauf an die Schwelle des Saals, und versuchte den Bogen. Aber er spannt' ihn nicht; die zarten Hände des Sehers 150 Wurden im Aufziehn laß. Da sprach er zu der Versammlung:
Freunde, ich spann' ihn nicht; ihn nehm' ein anderer jezo! Viele der Edeln im Volk wird dieser Bogen des Athems Und der Seele berauben; denn das ist tausendmal beßer, Sterben, als lebend den Zweck zu verfehlen, um den wir uns immer 155 Hier im Hause versammlen, und harren von Tage zu Tage! Jezo hofft wohl mancher in seinem Herzen, und wünscht sich Pänelopeia zum Weib', Odüßeus edle Gemahlin. Aber wird er einmal den Bogen prüfen und ansehn; O dann such' er sich nur von Achaia's lieblichen Töchtern 160 Eine andre, und werbe mit Brautgeschenken; doch diese Nehme den Mann, der das meiste geschenkt, und dem sie bestimmt ward.
Also sprach Leiodäs, und stellte den Bogen zur Erden, Hingelehnt an die feste mit Kunst gebildete Pforte, Lehnte den schnellen Pfeil an des Bogens zierliche Krümmung, 165 Ging, und sezte sich wieder auf seinen verlaßenen Seßel. Aber Antinoos schalt, und sprach die geflügelten Worte:
Welche Rede, Leiodäs, ist deinen Lippen entflohen! Welche schreckliche Drohung! Ich ärgere mich, es zu hören! Viele der Edeln im Volk soll dieser Bogen des Athems 170 Und der Seele berauben, weil du nicht vermagst ihn zu spannen? Dich gebar nun freilich die theure Mutter nicht dazu, Daß du mit Pfeil und Bogen dir Ruhm bei den Menschen erwürbest; Aber es sind, ihn zu spannen, noch andere mutige Freier!
Also sprach er, und rief dem Ziegenhirten Melantheus: 175
Einundzwanzigſter Geſang.
Dieſer nahm den Bogen und ſchnellen Pfeil von der Erde, Stellte ſich drauf an die Schwelle des Saals, und verſuchte den Bogen. Aber er ſpannt' ihn nicht; die zarten Haͤnde des Sehers 150 Wurden im Aufziehn laß. Da ſprach er zu der Verſammlung:
Freunde, ich ſpann' ihn nicht; ihn nehm' ein anderer jezo! Viele der Edeln im Volk wird dieſer Bogen des Athems Und der Seele berauben; denn das iſt tauſendmal beßer, Sterben, als lebend den Zweck zu verfehlen, um den wir uns immer 155 Hier im Hauſe verſammlen, und harren von Tage zu Tage! Jezo hofft wohl mancher in ſeinem Herzen, und wuͤnſcht ſich Paͤnelopeia zum Weib', Oduͤßeus edle Gemahlin. Aber wird er einmal den Bogen pruͤfen und anſehn; O dann ſuch' er ſich nur von Achaia's lieblichen Toͤchtern 160 Eine andre, und werbe mit Brautgeſchenken; doch dieſe Nehme den Mann, der das meiſte geſchenkt, und dem ſie beſtimmt ward.
Alſo ſprach Leiodaͤs, und ſtellte den Bogen zur Erden, Hingelehnt an die feſte mit Kunſt gebildete Pforte, Lehnte den ſchnellen Pfeil an des Bogens zierliche Kruͤmmung, 165 Ging, und ſezte ſich wieder auf ſeinen verlaßenen Seßel. Aber Antinoos ſchalt, und ſprach die gefluͤgelten Worte:
Welche Rede, Leiodaͤs, iſt deinen Lippen entflohen! Welche ſchreckliche Drohung! Ich aͤrgere mich, es zu hoͤren! Viele der Edeln im Volk ſoll dieſer Bogen des Athems 170 Und der Seele berauben, weil du nicht vermagſt ihn zu ſpannen? Dich gebar nun freilich die theure Mutter nicht dazu, Daß du mit Pfeil und Bogen dir Ruhm bei den Menſchen erwuͤrbeſt; Aber es ſind, ihn zu ſpannen, noch andere mutige Freier!
Alſo ſprach er, und rief dem Ziegenhirten Melantheus: 175
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Einundzwanzigſter Geſang.
Dieſer nahm den Bogen und ſchnellen Pfeil von der Erde,
Stellte ſich drauf an die Schwelle des Saals, und verſuchte den Bogen.
Aber er ſpannt' ihn nicht; die zarten Haͤnde des Sehers
Wurden im Aufziehn laß. Da ſprach er zu der Verſammlung:
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Freunde, ich ſpann' ihn nicht; ihn nehm' ein anderer jezo!
Viele der Edeln im Volk wird dieſer Bogen des Athems
Und der Seele berauben; denn das iſt tauſendmal beßer,
Sterben, als lebend den Zweck zu verfehlen, um den wir uns immer
Hier im Hauſe verſammlen, und harren von Tage zu Tage!
Jezo hofft wohl mancher in ſeinem Herzen, und wuͤnſcht ſich
Paͤnelopeia zum Weib', Oduͤßeus edle Gemahlin.
Aber wird er einmal den Bogen pruͤfen und anſehn;
O dann ſuch' er ſich nur von Achaia's lieblichen Toͤchtern
Eine andre, und werbe mit Brautgeſchenken; doch dieſe
Nehme den Mann, der das meiſte geſchenkt, und dem ſie beſtimmt ward.
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Alſo ſprach Leiodaͤs, und ſtellte den Bogen zur Erden,
Hingelehnt an die feſte mit Kunſt gebildete Pforte,
Lehnte den ſchnellen Pfeil an des Bogens zierliche Kruͤmmung,
Ging, und ſezte ſich wieder auf ſeinen verlaßenen Seßel.
Aber Antinoos ſchalt, und ſprach die gefluͤgelten Worte:
165
Welche Rede, Leiodaͤs, iſt deinen Lippen entflohen!
Welche ſchreckliche Drohung! Ich aͤrgere mich, es zu hoͤren!
Viele der Edeln im Volk ſoll dieſer Bogen des Athems
Und der Seele berauben, weil du nicht vermagſt ihn zu ſpannen?
Dich gebar nun freilich die theure Mutter nicht dazu,
Daß du mit Pfeil und Bogen dir Ruhm bei den Menſchen erwuͤrbeſt;
Aber es ſind, ihn zu ſpannen, noch andere mutige Freier!
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Alſo ſprach er, und rief dem Ziegenhirten Melantheus:
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Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781, S. 405. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/411>, abgerufen am 25.11.2024.
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