Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781.

Bild:
<< vorherige Seite

Odüßee. Zwanzigster Gesang.
Aus der Höhle befreite, wo dir dein Tod schon bestimmt war.

Also strafte der Edle sein Herz im wallenden Busen;
Und sein empörtes Herz ermannte sich schnell, und harrte
Standhaft aus. Allein er wandte sich hiehin und dorthin.
Also wendet der Pflüger am großen brennenden Feuer 25
Einen Ziegenmagen, mit Fett und Blute gefüllet,
Hin und her, und erwartet es kaum, ihn gebraten zu sehen:
Also wandte der Held sich hin und wieder, bekümmert,
Wie er den schrecklichen Kampf mit den schamlosen Freiern begönne,
Er allein mit so vielen. Da schwebete Pallas Athänä 30
Hoch vom Himmel herab, und kam in weiblicher Bildung,
Neigte sich über sein Haupt, und sprach mit freundlicher Stimme:

Warum wachst du doch, unglücklichster aller die leben?
Dieses ist ja dein Haus, und drinnen ist deine Gemahlin,
Und ein Sohn, so treflich ihn irgend ein Vater sich wünschet! 35

Ihr antwortete drauf der erfindungsreiche Odüßeus:
Dieses alles ist wahr, o Göttin, was du geredet.
Aber eines ist, was meine Seele bekümmert:
Wie ich den schrecklichen Kampf mit den schamlosen Freiern beginne,
Ich allein mit so vielen, die hier sich täglich versammeln. 40
Und noch ein Größeres ist, was meine Seele bekümmert:
Wann ich jene mit Zeus und deinem Willen ermorde,
Wo entflieh ich alsdann? Dies überlege nun selber.

Drauf antwortete Zeus blauäugichte Tochter Athänä:
O Kleinmütiger, traut man doch einem geringeren Freunde, 45
Welcher nur sterblich ist und eingeschränktes Verstandes;
Und der Unsterblichen eine bin ich, die deiner beständig

B b

Oduͤßee. Zwanzigſter Geſang.
Aus der Hoͤhle befreite, wo dir dein Tod ſchon beſtimmt war.

Alſo ſtrafte der Edle ſein Herz im wallenden Buſen;
Und ſein empoͤrtes Herz ermannte ſich ſchnell, und harrte
Standhaft aus. Allein er wandte ſich hiehin und dorthin.
Alſo wendet der Pfluͤger am großen brennenden Feuer 25
Einen Ziegenmagen, mit Fett und Blute gefuͤllet,
Hin und her, und erwartet es kaum, ihn gebraten zu ſehen:
Alſo wandte der Held ſich hin und wieder, bekuͤmmert,
Wie er den ſchrecklichen Kampf mit den ſchamloſen Freiern begoͤnne,
Er allein mit ſo vielen. Da ſchwebete Pallas Athaͤnaͤ 30
Hoch vom Himmel herab, und kam in weiblicher Bildung,
Neigte ſich uͤber ſein Haupt, und ſprach mit freundlicher Stimme:

Warum wachſt du doch, ungluͤcklichſter aller die leben?
Dieſes iſt ja dein Haus, und drinnen iſt deine Gemahlin,
Und ein Sohn, ſo treflich ihn irgend ein Vater ſich wuͤnſchet! 35

Ihr antwortete drauf der erfindungsreiche Oduͤßeus:
Dieſes alles iſt wahr, o Goͤttin, was du geredet.
Aber eines iſt, was meine Seele bekuͤmmert:
Wie ich den ſchrecklichen Kampf mit den ſchamloſen Freiern beginne,
Ich allein mit ſo vielen, die hier ſich taͤglich verſammeln. 40
Und noch ein Groͤßeres iſt, was meine Seele bekuͤmmert:
Wann ich jene mit Zeus und deinem Willen ermorde,
Wo entflieh ich alsdann? Dies uͤberlege nun ſelber.

Drauf antwortete Zeus blauaͤugichte Tochter Athaͤnaͤ:
O Kleinmuͤtiger, traut man doch einem geringeren Freunde, 45
Welcher nur ſterblich iſt und eingeſchraͤnktes Verſtandes;
Und der Unſterblichen eine bin ich, die deiner beſtaͤndig

B b
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0391" n="385"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Odu&#x0364;ßee. Zwanzig&#x017F;ter Ge&#x017F;ang.</hi></fw><lb/>
Aus der Ho&#x0364;hle befreite, wo dir dein Tod &#x017F;chon be&#x017F;timmt war.</p><lb/>
        <p>Al&#x017F;o &#x017F;trafte der Edle &#x017F;ein Herz im wallenden Bu&#x017F;en;<lb/>
Und &#x017F;ein empo&#x0364;rtes Herz ermannte &#x017F;ich &#x017F;chnell, und harrte<lb/>
Standhaft aus. Allein er wandte &#x017F;ich hiehin und dorthin.<lb/>
Al&#x017F;o wendet der Pflu&#x0364;ger am großen brennenden Feuer <note place="right">25</note><lb/>
Einen Ziegenmagen, mit Fett und Blute gefu&#x0364;llet,<lb/>
Hin und her, und erwartet es kaum, ihn gebraten zu &#x017F;ehen:<lb/>
Al&#x017F;o wandte der Held &#x017F;ich hin und wieder, beku&#x0364;mmert,<lb/>
Wie er den &#x017F;chrecklichen Kampf mit den &#x017F;chamlo&#x017F;en Freiern bego&#x0364;nne,<lb/>
Er allein mit &#x017F;o vielen. Da &#x017F;chwebete Pallas Atha&#x0364;na&#x0364; <note place="right">30</note><lb/>
Hoch vom Himmel herab, und kam in weiblicher Bildung,<lb/>
Neigte &#x017F;ich u&#x0364;ber &#x017F;ein Haupt, und &#x017F;prach mit freundlicher Stimme:</p><lb/>
        <p>Warum wach&#x017F;t du doch, unglu&#x0364;cklich&#x017F;ter aller die leben?<lb/>
Die&#x017F;es i&#x017F;t ja dein Haus, und drinnen i&#x017F;t deine Gemahlin,<lb/>
Und ein Sohn, &#x017F;o treflich ihn irgend ein Vater &#x017F;ich wu&#x0364;n&#x017F;chet! <note place="right">35</note></p><lb/>
        <p>Ihr antwortete drauf der erfindungsreiche Odu&#x0364;ßeus:<lb/>
Die&#x017F;es alles i&#x017F;t wahr, o Go&#x0364;ttin, was du geredet.<lb/>
Aber eines i&#x017F;t, was meine Seele beku&#x0364;mmert:<lb/>
Wie ich den &#x017F;chrecklichen Kampf mit den &#x017F;chamlo&#x017F;en Freiern beginne,<lb/>
Ich allein mit &#x017F;o vielen, die hier &#x017F;ich ta&#x0364;glich ver&#x017F;ammeln. <note place="right">40</note><lb/>
Und noch ein Gro&#x0364;ßeres i&#x017F;t, was meine Seele beku&#x0364;mmert:<lb/>
Wann ich jene mit Zeus und deinem Willen ermorde,<lb/>
Wo entflieh ich alsdann? Dies u&#x0364;berlege nun &#x017F;elber.</p><lb/>
        <p>Drauf antwortete Zeus blaua&#x0364;ugichte Tochter Atha&#x0364;na&#x0364;:<lb/>
O Kleinmu&#x0364;tiger, traut man doch einem geringeren Freunde, <note place="right">45</note><lb/>
Welcher nur &#x017F;terblich i&#x017F;t und einge&#x017F;chra&#x0364;nktes Ver&#x017F;tandes;<lb/>
Und der Un&#x017F;terblichen eine bin ich, die deiner be&#x017F;ta&#x0364;ndig<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">B b</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[385/0391] Oduͤßee. Zwanzigſter Geſang. Aus der Hoͤhle befreite, wo dir dein Tod ſchon beſtimmt war. Alſo ſtrafte der Edle ſein Herz im wallenden Buſen; Und ſein empoͤrtes Herz ermannte ſich ſchnell, und harrte Standhaft aus. Allein er wandte ſich hiehin und dorthin. Alſo wendet der Pfluͤger am großen brennenden Feuer Einen Ziegenmagen, mit Fett und Blute gefuͤllet, Hin und her, und erwartet es kaum, ihn gebraten zu ſehen: Alſo wandte der Held ſich hin und wieder, bekuͤmmert, Wie er den ſchrecklichen Kampf mit den ſchamloſen Freiern begoͤnne, Er allein mit ſo vielen. Da ſchwebete Pallas Athaͤnaͤ Hoch vom Himmel herab, und kam in weiblicher Bildung, Neigte ſich uͤber ſein Haupt, und ſprach mit freundlicher Stimme: 25 30 Warum wachſt du doch, ungluͤcklichſter aller die leben? Dieſes iſt ja dein Haus, und drinnen iſt deine Gemahlin, Und ein Sohn, ſo treflich ihn irgend ein Vater ſich wuͤnſchet! 35 Ihr antwortete drauf der erfindungsreiche Oduͤßeus: Dieſes alles iſt wahr, o Goͤttin, was du geredet. Aber eines iſt, was meine Seele bekuͤmmert: Wie ich den ſchrecklichen Kampf mit den ſchamloſen Freiern beginne, Ich allein mit ſo vielen, die hier ſich taͤglich verſammeln. Und noch ein Groͤßeres iſt, was meine Seele bekuͤmmert: Wann ich jene mit Zeus und deinem Willen ermorde, Wo entflieh ich alsdann? Dies uͤberlege nun ſelber. 40 Drauf antwortete Zeus blauaͤugichte Tochter Athaͤnaͤ: O Kleinmuͤtiger, traut man doch einem geringeren Freunde, Welcher nur ſterblich iſt und eingeſchraͤnktes Verſtandes; Und der Unſterblichen eine bin ich, die deiner beſtaͤndig 45 B b

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/391
Zitationshilfe: Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781, S. 385. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/391>, abgerufen am 25.11.2024.