Halt es geheim, damit es im Hause keiner erfahre! Denn ich sage dir sonst, und das wird wahrlich erfüllet! Wenn mir Gott die Vertilgung der stolzen Freier gewähret, Siehe dann werd' ich auch deiner, die mich gesäuget, nicht schonen; Sondern ich tödte dich selbst mit den übrigen Weibern im Hause! 490
Ihm antwortete drauf die verständige Eurükleia: Welche Rede, mein Kind, ist deinen Lippen entflohen? Weißt du nicht selbst, wie stark und unerschüttert mein Herz ist? Fest, wie Eisen und Stein, will ich das Geheimniß bewahren! Eins verkünd' ich dir noch, und du nim solches zu Herzen: 495 Wann dir Gott die Vertilgung der stolzen Freier gewähret, Siehe, dann will ich selbst die Weiber im Hause dir nennen, Alle, die dich verrathen, und die unsträflich geblieben.
Ihr antwortete drauf der erfindungreiche Odüßeus: Mütterchen, warum willst du sie nennen? Es ist ja nicht nöthig. 500 Kann ich nicht selbst aufmerken, und ihre Gesinnungen prüfen? Aber verschweig die Sache, und überlaß sie den Göttern.
Also sprach er. Da eilte die Pflegerin aus dem Gemache, Anderes Waßer zu holen; das erste war alles verschüttet. Als sie ihn jezo gewaschen, und drauf mit Oele gesalbet; 505 Nahm Odüßeus den Stuhl, und zog ihn näher ans Feuer, Sich zu wärmen, und bedeckte mit seinen Lumpen die Narbe. Drauf begann das Gespräch die verständige Pänelopeia:
Fremdling, ich will dich jezo nur noch ein weniges fragen; Denn es nahet bereits die Stunde der lieblichen Ruhe, 510 Wem sein Leiden vergönnt, in süßem Schlummer zu ruhen. Aber mich Arme belastet ein unermeßlicher Jammer! Meine Freude des Tags ist, unter Thränen und Seufzern
Neunzehnter Geſang.
Halt es geheim, damit es im Hauſe keiner erfahre! Denn ich ſage dir ſonſt, und das wird wahrlich erfuͤllet! Wenn mir Gott die Vertilgung der ſtolzen Freier gewaͤhret, Siehe dann werd' ich auch deiner, die mich geſaͤuget, nicht ſchonen; Sondern ich toͤdte dich ſelbſt mit den uͤbrigen Weibern im Hauſe! 490
Ihm antwortete drauf die verſtaͤndige Euruͤkleia: Welche Rede, mein Kind, iſt deinen Lippen entflohen? Weißt du nicht ſelbſt, wie ſtark und unerſchuͤttert mein Herz iſt? Feſt, wie Eiſen und Stein, will ich das Geheimniß bewahren! Eins verkuͤnd' ich dir noch, und du nim ſolches zu Herzen: 495 Wann dir Gott die Vertilgung der ſtolzen Freier gewaͤhret, Siehe, dann will ich ſelbſt die Weiber im Hauſe dir nennen, Alle, die dich verrathen, und die unſtraͤflich geblieben.
Ihr antwortete drauf der erfindungreiche Oduͤßeus: Muͤtterchen, warum willſt du ſie nennen? Es iſt ja nicht noͤthig. 500 Kann ich nicht ſelbſt aufmerken, und ihre Geſinnungen pruͤfen? Aber verſchweig die Sache, und uͤberlaß ſie den Goͤttern.
Alſo ſprach er. Da eilte die Pflegerin aus dem Gemache, Anderes Waßer zu holen; das erſte war alles verſchuͤttet. Als ſie ihn jezo gewaſchen, und drauf mit Oele geſalbet; 505 Nahm Oduͤßeus den Stuhl, und zog ihn naͤher ans Feuer, Sich zu waͤrmen, und bedeckte mit ſeinen Lumpen die Narbe. Drauf begann das Geſpraͤch die verſtaͤndige Paͤnelopeia:
Fremdling, ich will dich jezo nur noch ein weniges fragen; Denn es nahet bereits die Stunde der lieblichen Ruhe, 510 Wem ſein Leiden vergoͤnnt, in ſuͤßem Schlummer zu ruhen. Aber mich Arme belaſtet ein unermeßlicher Jammer! Meine Freude des Tags iſt, unter Thraͤnen und Seufzern
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0385"n="379"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Neunzehnter Geſang.</hi></fw><lb/>
Halt es geheim, damit es im Hauſe keiner erfahre!<lb/>
Denn ich ſage dir ſonſt, und das wird wahrlich erfuͤllet!<lb/>
Wenn mir Gott die Vertilgung der ſtolzen Freier gewaͤhret,<lb/>
Siehe dann werd' ich auch deiner, die mich geſaͤuget, nicht ſchonen;<lb/>
Sondern ich toͤdte dich ſelbſt mit den uͤbrigen Weibern im Hauſe! <noteplace="right">490</note></p><lb/><p>Ihm antwortete drauf die verſtaͤndige Euruͤkleia:<lb/>
Welche Rede, mein Kind, iſt deinen Lippen entflohen?<lb/>
Weißt du nicht ſelbſt, wie ſtark und unerſchuͤttert mein Herz iſt?<lb/>
Feſt, wie Eiſen und Stein, will ich das Geheimniß bewahren!<lb/>
Eins verkuͤnd' ich dir noch, und du nim ſolches zu Herzen: <noteplace="right">495</note><lb/>
Wann dir Gott die Vertilgung der ſtolzen Freier gewaͤhret,<lb/>
Siehe, dann will ich ſelbſt die Weiber im Hauſe dir nennen,<lb/>
Alle, die dich verrathen, und die unſtraͤflich geblieben.</p><lb/><p>Ihr antwortete drauf der erfindungreiche Oduͤßeus:<lb/>
Muͤtterchen, warum willſt du ſie nennen? Es iſt ja nicht noͤthig. <noteplace="right">500</note><lb/>
Kann ich nicht ſelbſt aufmerken, und ihre Geſinnungen pruͤfen?<lb/>
Aber verſchweig die Sache, und uͤberlaß ſie den Goͤttern.</p><lb/><p>Alſo ſprach er. Da eilte die Pflegerin aus dem Gemache,<lb/>
Anderes Waßer zu holen; das erſte war alles verſchuͤttet.<lb/>
Als ſie ihn jezo gewaſchen, und drauf mit Oele geſalbet; <noteplace="right">505</note><lb/>
Nahm Oduͤßeus den Stuhl, und zog ihn naͤher ans Feuer,<lb/>
Sich zu waͤrmen, und bedeckte mit ſeinen Lumpen die Narbe.<lb/>
Drauf begann das Geſpraͤch die verſtaͤndige Paͤnelopeia:</p><lb/><p>Fremdling, ich will dich jezo nur noch ein weniges fragen;<lb/>
Denn es nahet bereits die Stunde der lieblichen Ruhe, <noteplace="right">510</note><lb/>
Wem ſein Leiden vergoͤnnt, in ſuͤßem Schlummer zu ruhen.<lb/>
Aber mich Arme belaſtet ein unermeßlicher Jammer!<lb/>
Meine Freude des Tags iſt, unter Thraͤnen und Seufzern<lb/></p></div></body></text></TEI>
[379/0385]
Neunzehnter Geſang.
Halt es geheim, damit es im Hauſe keiner erfahre!
Denn ich ſage dir ſonſt, und das wird wahrlich erfuͤllet!
Wenn mir Gott die Vertilgung der ſtolzen Freier gewaͤhret,
Siehe dann werd' ich auch deiner, die mich geſaͤuget, nicht ſchonen;
Sondern ich toͤdte dich ſelbſt mit den uͤbrigen Weibern im Hauſe!
490
Ihm antwortete drauf die verſtaͤndige Euruͤkleia:
Welche Rede, mein Kind, iſt deinen Lippen entflohen?
Weißt du nicht ſelbſt, wie ſtark und unerſchuͤttert mein Herz iſt?
Feſt, wie Eiſen und Stein, will ich das Geheimniß bewahren!
Eins verkuͤnd' ich dir noch, und du nim ſolches zu Herzen:
Wann dir Gott die Vertilgung der ſtolzen Freier gewaͤhret,
Siehe, dann will ich ſelbſt die Weiber im Hauſe dir nennen,
Alle, die dich verrathen, und die unſtraͤflich geblieben.
495
Ihr antwortete drauf der erfindungreiche Oduͤßeus:
Muͤtterchen, warum willſt du ſie nennen? Es iſt ja nicht noͤthig.
Kann ich nicht ſelbſt aufmerken, und ihre Geſinnungen pruͤfen?
Aber verſchweig die Sache, und uͤberlaß ſie den Goͤttern.
500
Alſo ſprach er. Da eilte die Pflegerin aus dem Gemache,
Anderes Waßer zu holen; das erſte war alles verſchuͤttet.
Als ſie ihn jezo gewaſchen, und drauf mit Oele geſalbet;
Nahm Oduͤßeus den Stuhl, und zog ihn naͤher ans Feuer,
Sich zu waͤrmen, und bedeckte mit ſeinen Lumpen die Narbe.
Drauf begann das Geſpraͤch die verſtaͤndige Paͤnelopeia:
505
Fremdling, ich will dich jezo nur noch ein weniges fragen;
Denn es nahet bereits die Stunde der lieblichen Ruhe,
Wem ſein Leiden vergoͤnnt, in ſuͤßem Schlummer zu ruhen.
Aber mich Arme belaſtet ein unermeßlicher Jammer!
Meine Freude des Tags iſt, unter Thraͤnen und Seufzern
510
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781, S. 379. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/385>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.