Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781.Odüßee. Denn an Kräta's Küste verschlug ihn die heftige Windsbraut,Als er gen Ilion fuhr, und stürmt' ihn hinweg von Maleia. In des Amnisos gefährlicher Bucht entrann er dem Sturme Kaum, und ankerte dort bei der Grotte der Eileithüa, V. 189. Ging dann gleich in die Stadt, um Idomeneus selber zu sehen; 190 Denn er nannt' ihn seinen geliebten und theuersten Gastfreund. Aber schon zehnmal ging die Sonn' auf, oder schon elfmal, Seit Idomeneus war mit den Schiffen gen Troja gesegelt. Und ich führte den wehrten Gast in unsere Wohnung: Freundlich bewirtet' ich ihn von des Hauses reichlichem Vorrat, 195 Und versorgte sein Schiff und seiner Reisegefährten Reichlich, auf Kosten des Volks, mit Mehl und funkelndem Weine, Und mit gemästeten Rindern, daß ihre Seele sich labte. Und zwölf Tage blieben bei uns die edlen Achaier; Denn der gewaltige Nord, den ein zürnender Dämon gesendet, 200 Wütete, daß man kaum auf dem Lande zu stehen vermochte. Am dreizehnten ruhte der Sturm, und sie schifften von dannen. Also teuscht' er die Gattin mit wahrheitgleicher Erdichtung. V. 189. Die Eileithüen, oder Geburtsgöttinnen, waren Töchter der Härä. Die neuere Fabel verwechselt sie bald mit Härä, bald mit Artemis. V. 205. In Jonien, wo Homer sang, bringt der West- oder Nordwestwind
aus Thrazien Frost, und der Ost- oder Südostwind aus Asien milde Witterung. Oduͤßee. Denn an Kraͤta's Kuͤſte verſchlug ihn die heftige Windsbraut,Als er gen Ilion fuhr, und ſtuͤrmt' ihn hinweg von Maleia. In des Amniſos gefaͤhrlicher Bucht entrann er dem Sturme Kaum, und ankerte dort bei der Grotte der Eileithuͤa, V. 189. Ging dann gleich in die Stadt, um Idomeneus ſelber zu ſehen; 190 Denn er nannt' ihn ſeinen geliebten und theuerſten Gaſtfreund. Aber ſchon zehnmal ging die Sonn' auf, oder ſchon elfmal, Seit Idomeneus war mit den Schiffen gen Troja geſegelt. Und ich fuͤhrte den wehrten Gaſt in unſere Wohnung: Freundlich bewirtet' ich ihn von des Hauſes reichlichem Vorrat, 195 Und verſorgte ſein Schiff und ſeiner Reiſegefaͤhrten Reichlich, auf Koſten des Volks, mit Mehl und funkelndem Weine, Und mit gemaͤſteten Rindern, daß ihre Seele ſich labte. Und zwoͤlf Tage blieben bei uns die edlen Achaier; Denn der gewaltige Nord, den ein zuͤrnender Daͤmon geſendet, 200 Wuͤtete, daß man kaum auf dem Lande zu ſtehen vermochte. Am dreizehnten ruhte der Sturm, und ſie ſchifften von dannen. Alſo teuſcht' er die Gattin mit wahrheitgleicher Erdichtung. V. 189. Die Eileithuͤen, oder Geburtsgoͤttinnen, waren Toͤchter der Haͤraͤ. Die neuere Fabel verwechſelt ſie bald mit Haͤraͤ, bald mit Artemis. V. 205. In Jonien, wo Homer ſang, bringt der Weſt- oder Nordweſtwind
aus Thrazien Froſt, und der Oſt- oder Suͤdoſtwind aus Aſien milde Witterung. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0374" n="368"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Oduͤßee.</hi></fw><lb/> Denn an Kraͤta's Kuͤſte verſchlug ihn die heftige Windsbraut,<lb/> Als er gen Ilion fuhr, und ſtuͤrmt' ihn hinweg von Maleia.<lb/> In des Amniſos gefaͤhrlicher Bucht entrann er dem Sturme<lb/> Kaum, und ankerte dort bei der Grotte der Eileithuͤa, <note place="foot" n="V. 189.">Die Eileithuͤen, oder Geburtsgoͤttinnen, waren Toͤchter der Haͤraͤ.<lb/> Die neuere Fabel verwechſelt ſie bald mit Haͤraͤ, bald mit Artemis.</note><lb/> Ging dann gleich in die Stadt, um Idomeneus ſelber zu ſehen; <note place="right">190</note><lb/> Denn er nannt' ihn ſeinen geliebten und theuerſten Gaſtfreund.<lb/> Aber ſchon zehnmal ging die Sonn' auf, oder ſchon elfmal,<lb/> Seit Idomeneus war mit den Schiffen gen Troja geſegelt.<lb/> Und ich fuͤhrte den wehrten Gaſt in unſere Wohnung:<lb/> Freundlich bewirtet' ich ihn von des Hauſes reichlichem Vorrat, <note place="right">195</note><lb/> Und verſorgte ſein Schiff und ſeiner Reiſegefaͤhrten<lb/> Reichlich, auf Koſten des Volks, mit Mehl und funkelndem Weine,<lb/> Und mit gemaͤſteten Rindern, daß ihre Seele ſich labte.<lb/> Und zwoͤlf Tage blieben bei uns die edlen Achaier;<lb/> Denn der gewaltige Nord, den ein zuͤrnender Daͤmon geſendet, <note place="right">200</note><lb/> Wuͤtete, daß man kaum auf dem Lande zu ſtehen vermochte.<lb/> Am dreizehnten ruhte der Sturm, und ſie ſchifften von dannen.</p><lb/> <p>Alſo teuſcht' er die Gattin mit wahrheitgleicher Erdichtung.<lb/> Aber die horchende Gattin zerfloß in Thraͤnen der Wehmut.<lb/> Wie der Schnee, den der Weſt auf hohen Bergen gehaͤuft hat, <note place="foot" n="V. 205.">In Jonien, wo Homer ſang, bringt der Weſt- oder Nordweſtwind<lb/> aus Thrazien Froſt, und der Oſt- oder Suͤdoſtwind aus Aſien milde Witterung.</note> <note place="right">205</note><lb/> Vor dem ſchmelzenden Hauche des Morgenwindes herabfließt;<lb/> Daß von geſchmolzenem Schnee die Stroͤme den Ufern entſchwellen:<lb/> Alſo floßen ihr Thraͤnen die ſchoͤnen Wangen herunter,<lb/> Da ſie den nahen Gemahl beweinete. Aber Oduͤßeus<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [368/0374]
Oduͤßee.
Denn an Kraͤta's Kuͤſte verſchlug ihn die heftige Windsbraut,
Als er gen Ilion fuhr, und ſtuͤrmt' ihn hinweg von Maleia.
In des Amniſos gefaͤhrlicher Bucht entrann er dem Sturme
Kaum, und ankerte dort bei der Grotte der Eileithuͤa, V. 189.
Ging dann gleich in die Stadt, um Idomeneus ſelber zu ſehen;
Denn er nannt' ihn ſeinen geliebten und theuerſten Gaſtfreund.
Aber ſchon zehnmal ging die Sonn' auf, oder ſchon elfmal,
Seit Idomeneus war mit den Schiffen gen Troja geſegelt.
Und ich fuͤhrte den wehrten Gaſt in unſere Wohnung:
Freundlich bewirtet' ich ihn von des Hauſes reichlichem Vorrat,
Und verſorgte ſein Schiff und ſeiner Reiſegefaͤhrten
Reichlich, auf Koſten des Volks, mit Mehl und funkelndem Weine,
Und mit gemaͤſteten Rindern, daß ihre Seele ſich labte.
Und zwoͤlf Tage blieben bei uns die edlen Achaier;
Denn der gewaltige Nord, den ein zuͤrnender Daͤmon geſendet,
Wuͤtete, daß man kaum auf dem Lande zu ſtehen vermochte.
Am dreizehnten ruhte der Sturm, und ſie ſchifften von dannen.
190
195
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Alſo teuſcht' er die Gattin mit wahrheitgleicher Erdichtung.
Aber die horchende Gattin zerfloß in Thraͤnen der Wehmut.
Wie der Schnee, den der Weſt auf hohen Bergen gehaͤuft hat, V. 205.
Vor dem ſchmelzenden Hauche des Morgenwindes herabfließt;
Daß von geſchmolzenem Schnee die Stroͤme den Ufern entſchwellen:
Alſo floßen ihr Thraͤnen die ſchoͤnen Wangen herunter,
Da ſie den nahen Gemahl beweinete. Aber Oduͤßeus
205
V. 189. Die Eileithuͤen, oder Geburtsgoͤttinnen, waren Toͤchter der Haͤraͤ.
Die neuere Fabel verwechſelt ſie bald mit Haͤraͤ, bald mit Artemis.
V. 205. In Jonien, wo Homer ſang, bringt der Weſt- oder Nordweſtwind
aus Thrazien Froſt, und der Oſt- oder Suͤdoſtwind aus Aſien milde Witterung.
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