Wer, weß Volkes bist du, und wo ist deine Geburtstadt? 105
Ihr antwortete drauf der erfindungsreiche Odüßeus: Keiner, o Königin, lebt auf der unermeßlichen Erde, Der dich tadle; dein Ruhm erreicht die Feste des Himmels, Gleich dem Ruhme des guten und gottesfürchtigen Königs, Welcher ein großes Volk von starken Männern beherschet, 110 Und die Gerechtigkeit schüzt. Die fetten Hügel und Thäler Wallen von Weizen und Gerste, die Bäume hangen voll Obstes, Häufig gebiert das Vieh, und die Waßer wimmeln von Fischen, Unter dem weisen König, der seine Völker beseligt. Aber frage mich hier im Hause nach anderen Dingen, 115 Und erkunde dich nicht nach meinem Geschlecht und Geburtsland: Daß du nicht mein Herz mit herberen Qualen erfüllest, Wenn ich mich alles Jammers erinnere, den ich erduldet. Denn mit Klagen und Weinen im fremden Hause zu sizen, Ziemet mir nicht; und langer Gram vermehrt nur das Leiden. 120 Auch möcht' eine der Mägde mir zürnen, oder du selber, Und, wenn ich weinte, sagen, mir thränten die Augen vom Weinrausch.
Ihm antwortete drauf die kluge Pänelopeia: Fremdling, die Tugend des Geistes und meine Schönheit und Bildung Raubten die Himmlischen mir am Tage, da die Argeier 125 Schifften gen Troja, mit ihnen mein trauter Gemahl Odüßeus! Kehrete jener von dannen, und lebt' in meiner Gesellschaft, Ja dann möchte mein Ruhm wohl größer werden und schöner! Aber jezo traur' ich; denn Leiden beschied mir ein Dämon. Alle Fürsten, so viel in diesen Inseln gebieten, 130 Samä, Dulichion und der waldbewachsnen Zakünthos, Und so viele hier in der sonnigen Ithaka wohnen:
Neunzehnter Geſang.
Wer, weß Volkes biſt du, und wo iſt deine Geburtſtadt? 105
Ihr antwortete drauf der erfindungsreiche Oduͤßeus: Keiner, o Koͤnigin, lebt auf der unermeßlichen Erde, Der dich tadle; dein Ruhm erreicht die Feſte des Himmels, Gleich dem Ruhme des guten und gottesfuͤrchtigen Koͤnigs, Welcher ein großes Volk von ſtarken Maͤnnern beherſchet, 110 Und die Gerechtigkeit ſchuͤzt. Die fetten Huͤgel und Thaͤler Wallen von Weizen und Gerſte, die Baͤume hangen voll Obſtes, Haͤufig gebiert das Vieh, und die Waßer wimmeln von Fiſchen, Unter dem weiſen Koͤnig, der ſeine Voͤlker beſeligt. Aber frage mich hier im Hauſe nach anderen Dingen, 115 Und erkunde dich nicht nach meinem Geſchlecht und Geburtsland: Daß du nicht mein Herz mit herberen Qualen erfuͤlleſt, Wenn ich mich alles Jammers erinnere, den ich erduldet. Denn mit Klagen und Weinen im fremden Hauſe zu ſizen, Ziemet mir nicht; und langer Gram vermehrt nur das Leiden. 120 Auch moͤcht' eine der Maͤgde mir zuͤrnen, oder du ſelber, Und, wenn ich weinte, ſagen, mir thraͤnten die Augen vom Weinrauſch.
Ihm antwortete drauf die kluge Paͤnelopeia: Fremdling, die Tugend des Geiſtes und meine Schoͤnheit und Bildung Raubten die Himmliſchen mir am Tage, da die Argeier 125 Schifften gen Troja, mit ihnen mein trauter Gemahl Oduͤßeus! Kehrete jener von dannen, und lebt' in meiner Geſellſchaft, Ja dann moͤchte mein Ruhm wohl groͤßer werden und ſchoͤner! Aber jezo traur' ich; denn Leiden beſchied mir ein Daͤmon. Alle Fuͤrſten, ſo viel in dieſen Inſeln gebieten, 130 Samaͤ, Dulichion und der waldbewachsnen Zakuͤnthos, Und ſo viele hier in der ſonnigen Ithaka wohnen:
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Neunzehnter Geſang.
Wer, weß Volkes biſt du, und wo iſt deine Geburtſtadt?
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Ihr antwortete drauf der erfindungsreiche Oduͤßeus:
Keiner, o Koͤnigin, lebt auf der unermeßlichen Erde,
Der dich tadle; dein Ruhm erreicht die Feſte des Himmels,
Gleich dem Ruhme des guten und gottesfuͤrchtigen Koͤnigs,
Welcher ein großes Volk von ſtarken Maͤnnern beherſchet,
Und die Gerechtigkeit ſchuͤzt. Die fetten Huͤgel und Thaͤler
Wallen von Weizen und Gerſte, die Baͤume hangen voll Obſtes,
Haͤufig gebiert das Vieh, und die Waßer wimmeln von Fiſchen,
Unter dem weiſen Koͤnig, der ſeine Voͤlker beſeligt.
Aber frage mich hier im Hauſe nach anderen Dingen,
Und erkunde dich nicht nach meinem Geſchlecht und Geburtsland:
Daß du nicht mein Herz mit herberen Qualen erfuͤlleſt,
Wenn ich mich alles Jammers erinnere, den ich erduldet.
Denn mit Klagen und Weinen im fremden Hauſe zu ſizen,
Ziemet mir nicht; und langer Gram vermehrt nur das Leiden.
Auch moͤcht' eine der Maͤgde mir zuͤrnen, oder du ſelber,
Und, wenn ich weinte, ſagen, mir thraͤnten die Augen vom Weinrauſch.
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Ihm antwortete drauf die kluge Paͤnelopeia:
Fremdling, die Tugend des Geiſtes und meine Schoͤnheit und Bildung
Raubten die Himmliſchen mir am Tage, da die Argeier
Schifften gen Troja, mit ihnen mein trauter Gemahl Oduͤßeus!
Kehrete jener von dannen, und lebt' in meiner Geſellſchaft,
Ja dann moͤchte mein Ruhm wohl groͤßer werden und ſchoͤner!
Aber jezo traur' ich; denn Leiden beſchied mir ein Daͤmon.
Alle Fuͤrſten, ſo viel in dieſen Inſeln gebieten,
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Und ſo viele hier in der ſonnigen Ithaka wohnen:
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Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781, S. 365. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/371>, abgerufen am 22.11.2024.
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