Und bedeckt' ihn mit Küßen, als wär' er vom Tod' erstanden. Und lautweinend begann er, und sprach die geflügelten Worte:
Kommst du, Tälemachos, kommst du, mein süßes Leben? Ich hoffte Nimmer dich wiederzusehn, da du nach Pülos geschifft warst! Komm doch herein, du trautes Kind; daß mein Herz sich erfreue 25 Deines Anblicks, du! der erst aus der Fremde zurückkommt! Oft besuchst du ja nicht uns Hirtenleut' auf dem Felde, Sondern bleibst in der Stadt; denn du findest ein eignes Vergnügen, Stets den verwüstenden Schwarm der bösen Freier zu sehen!
Und der verständige Jüngling Tälemachos sagte dagegen: 30 Väterchen, dieses geschehe; denn deinethalben nur komm' ich, Um dich wieder mit Augen zu sehn, und von dir zu erfahren: Ob die Mutter daheim noch weile; oder der andern Einen zum Manne gewählt, und nun das Lager Odüßeus, Aller Betten beraubt, von Spinneweben entstellt sei? 35
Ihm antwortete drauf der männerbeherschende Sauhirt: Allerdings weilt jene mit treuer duldender Seele Noch in deinem Palast; und immer schwinden in Jammer Ihre Tage dahin, und unter Thränen die Nächte!
Also sprach er, und nahm ihm die eherne Lanze, da jener 40 Ueber die steinerne Schwell' in seine Kammer hineintrat. Vor dem Kommenden wich sein Vater Odüßeus vom Size; Aber Tälemachos hielt ihn, und sprach mit freundlicher Stimme:
Fremder Mann, bleib sizen; wir finden in unserer Wohnung Wohl noch anderswo Plaz; der Mann hier wird mich schon sezen! 45
Sprachs; und Odüßeus kam und sezte sich. Aber der Sauhirt Breitete grüne Zweige für jenen, und drüber ein Geisfell;
U
Oduͤßee. Sechzehnter Geſang.
Und bedeckt' ihn mit Kuͤßen, als waͤr' er vom Tod' erſtanden. Und lautweinend begann er, und ſprach die gefluͤgelten Worte:
Kommſt du, Taͤlemachos, kommſt du, mein ſuͤßes Leben? Ich hoffte Nimmer dich wiederzuſehn, da du nach Puͤlos geſchifft warſt! Komm doch herein, du trautes Kind; daß mein Herz ſich erfreue 25 Deines Anblicks, du! der erſt aus der Fremde zuruͤckkommt! Oft beſuchſt du ja nicht uns Hirtenleut' auf dem Felde, Sondern bleibſt in der Stadt; denn du findeſt ein eignes Vergnuͤgen, Stets den verwuͤſtenden Schwarm der boͤſen Freier zu ſehen!
Und der verſtaͤndige Juͤngling Taͤlemachos ſagte dagegen: 30 Vaͤterchen, dieſes geſchehe; denn deinethalben nur komm' ich, Um dich wieder mit Augen zu ſehn, und von dir zu erfahren: Ob die Mutter daheim noch weile; oder der andern Einen zum Manne gewaͤhlt, und nun das Lager Oduͤßeus, Aller Betten beraubt, von Spinneweben entſtellt ſei? 35
Ihm antwortete drauf der maͤnnerbeherſchende Sauhirt: Allerdings weilt jene mit treuer duldender Seele Noch in deinem Palaſt; und immer ſchwinden in Jammer Ihre Tage dahin, und unter Thraͤnen die Naͤchte!
Alſo ſprach er, und nahm ihm die eherne Lanze, da jener 40 Ueber die ſteinerne Schwell' in ſeine Kammer hineintrat. Vor dem Kommenden wich ſein Vater Oduͤßeus vom Size; Aber Taͤlemachos hielt ihn, und ſprach mit freundlicher Stimme:
Fremder Mann, bleib ſizen; wir finden in unſerer Wohnung Wohl noch anderswo Plaz; der Mann hier wird mich ſchon ſezen! 45
Sprachs; und Oduͤßeus kam und ſezte ſich. Aber der Sauhirt Breitete gruͤne Zweige fuͤr jenen, und druͤber ein Geisfell;
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Oduͤßee. Sechzehnter Geſang.
Und bedeckt' ihn mit Kuͤßen, als waͤr' er vom Tod' erſtanden.
Und lautweinend begann er, und ſprach die gefluͤgelten Worte:
Kommſt du, Taͤlemachos, kommſt du, mein ſuͤßes Leben? Ich hoffte
Nimmer dich wiederzuſehn, da du nach Puͤlos geſchifft warſt!
Komm doch herein, du trautes Kind; daß mein Herz ſich erfreue
Deines Anblicks, du! der erſt aus der Fremde zuruͤckkommt!
Oft beſuchſt du ja nicht uns Hirtenleut' auf dem Felde,
Sondern bleibſt in der Stadt; denn du findeſt ein eignes Vergnuͤgen,
Stets den verwuͤſtenden Schwarm der boͤſen Freier zu ſehen!
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Und der verſtaͤndige Juͤngling Taͤlemachos ſagte dagegen:
Vaͤterchen, dieſes geſchehe; denn deinethalben nur komm' ich,
Um dich wieder mit Augen zu ſehn, und von dir zu erfahren:
Ob die Mutter daheim noch weile; oder der andern
Einen zum Manne gewaͤhlt, und nun das Lager Oduͤßeus,
Aller Betten beraubt, von Spinneweben entſtellt ſei?
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Ihm antwortete drauf der maͤnnerbeherſchende Sauhirt:
Allerdings weilt jene mit treuer duldender Seele
Noch in deinem Palaſt; und immer ſchwinden in Jammer
Ihre Tage dahin, und unter Thraͤnen die Naͤchte!
Alſo ſprach er, und nahm ihm die eherne Lanze, da jener
Ueber die ſteinerne Schwell' in ſeine Kammer hineintrat.
Vor dem Kommenden wich ſein Vater Oduͤßeus vom Size;
Aber Taͤlemachos hielt ihn, und ſprach mit freundlicher Stimme:
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Fremder Mann, bleib ſizen; wir finden in unſerer Wohnung
Wohl noch anderswo Plaz; der Mann hier wird mich ſchon ſezen!
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Sprachs; und Oduͤßeus kam und ſezte ſich. Aber der Sauhirt
Breitete gruͤne Zweige fuͤr jenen, und druͤber ein Geisfell;
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Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781, S. 305. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/311>, abgerufen am 24.11.2024.
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