Also gebrauchst du noch selbst im Vaterlande Verstellung Und erdichtete Worte, die du als Knabe schon liebtest? 295 Aber laß uns hievon nicht weiter reden; wir kennen Beide die Kunst: du bist von allen Menschen der Erste An Verstand und Reden, und ich bin unter den Göttern Hochgepriesen an Rath und Weisheit. Aber du kanntest Pallas Athänä nicht, Zeus Tochter, welche beständig 300 Unter allen Gefahren dir beistand, und dich beschirmte, Und dir auch die Liebe von allen Faiaken verschaffte. Jezo komm' ich hieher, um dir Anschläge zu geben, Und zu verbergen das Gut, so viel die edlen Faiaken Dir heimkehrenden schenkten, durch meine Klugheit geleitet; 305 Auch zu verkünden, daß deiner im schöngebauten Palaste Viele Drangsal noch harrt. Doch du ertrage sie standhaft, Und entdecke dich keinem der Männer oder der Weiber, Daß du von Leiden verfolgt hier ankamst; sondern erdulde Schweigend dein trauriges Loos und schmiege dich unter die Stolzen 310
Ihr antwortete drauf der erfindungsreiche Odüßeus: Schwer, o Göttin, erkennt dich ein Sterblicher, dem du begegnest, Sei er auch noch so geübt; denn du nimst jede Gestalt an. Dennoch weiß ich es wohl, daß du vor Zeiten mir hold warst, Als wir Achaier noch die hohe Troja bekriegten. 315 Aber seit wir die Stadt des Priamos niedergerißen, Und von dannen geschifft, und ein Gott die Achaier zerstreuet, Hab' ich dich nimmer gesehn, Zeus Tochter, und nimmer vernommen, Daß du mein Schiff betratst, mich einer Gefahr zu entreißen; Sondern immer, im Herzen von tausend Sorgen verwundet, 320
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Dreizehnter Geſang.
Alſo gebrauchſt du noch ſelbſt im Vaterlande Verſtellung Und erdichtete Worte, die du als Knabe ſchon liebteſt? 295 Aber laß uns hievon nicht weiter reden; wir kennen Beide die Kunſt: du biſt von allen Menſchen der Erſte An Verſtand und Reden, und ich bin unter den Goͤttern Hochgeprieſen an Rath und Weisheit. Aber du kannteſt Pallas Athaͤnaͤ nicht, Zeus Tochter, welche beſtaͤndig 300 Unter allen Gefahren dir beiſtand, und dich beſchirmte, Und dir auch die Liebe von allen Faiaken verſchaffte. Jezo komm' ich hieher, um dir Anſchlaͤge zu geben, Und zu verbergen das Gut, ſo viel die edlen Faiaken Dir heimkehrenden ſchenkten, durch meine Klugheit geleitet; 305 Auch zu verkuͤnden, daß deiner im ſchoͤngebauten Palaſte Viele Drangſal noch harrt. Doch du ertrage ſie ſtandhaft, Und entdecke dich keinem der Maͤnner oder der Weiber, Daß du von Leiden verfolgt hier ankamſt; ſondern erdulde Schweigend dein trauriges Loos und ſchmiege dich unter die Stolzen 310
Ihr antwortete drauf der erfindungsreiche Oduͤßeus: Schwer, o Goͤttin, erkennt dich ein Sterblicher, dem du begegneſt, Sei er auch noch ſo geuͤbt; denn du nimſt jede Geſtalt an. Dennoch weiß ich es wohl, daß du vor Zeiten mir hold warſt, Als wir Achaier noch die hohe Troja bekriegten. 315 Aber ſeit wir die Stadt des Priamos niedergerißen, Und von dannen geſchifft, und ein Gott die Achaier zerſtreuet, Hab' ich dich nimmer geſehn, Zeus Tochter, und nimmer vernommen, Daß du mein Schiff betratſt, mich einer Gefahr zu entreißen; Sondern immer, im Herzen von tauſend Sorgen verwundet, 320
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Dreizehnter Geſang.
Alſo gebrauchſt du noch ſelbſt im Vaterlande Verſtellung
Und erdichtete Worte, die du als Knabe ſchon liebteſt?
Aber laß uns hievon nicht weiter reden; wir kennen
Beide die Kunſt: du biſt von allen Menſchen der Erſte
An Verſtand und Reden, und ich bin unter den Goͤttern
Hochgeprieſen an Rath und Weisheit. Aber du kannteſt
Pallas Athaͤnaͤ nicht, Zeus Tochter, welche beſtaͤndig
Unter allen Gefahren dir beiſtand, und dich beſchirmte,
Und dir auch die Liebe von allen Faiaken verſchaffte.
Jezo komm' ich hieher, um dir Anſchlaͤge zu geben,
Und zu verbergen das Gut, ſo viel die edlen Faiaken
Dir heimkehrenden ſchenkten, durch meine Klugheit geleitet;
Auch zu verkuͤnden, daß deiner im ſchoͤngebauten Palaſte
Viele Drangſal noch harrt. Doch du ertrage ſie ſtandhaft,
Und entdecke dich keinem der Maͤnner oder der Weiber,
Daß du von Leiden verfolgt hier ankamſt; ſondern erdulde
Schweigend dein trauriges Loos und ſchmiege dich unter die Stolzen
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Ihr antwortete drauf der erfindungsreiche Oduͤßeus:
Schwer, o Goͤttin, erkennt dich ein Sterblicher, dem du begegneſt,
Sei er auch noch ſo geuͤbt; denn du nimſt jede Geſtalt an.
Dennoch weiß ich es wohl, daß du vor Zeiten mir hold warſt,
Als wir Achaier noch die hohe Troja bekriegten.
Aber ſeit wir die Stadt des Priamos niedergerißen,
Und von dannen geſchifft, und ein Gott die Achaier zerſtreuet,
Hab' ich dich nimmer geſehn, Zeus Tochter, und nimmer vernommen,
Daß du mein Schiff betratſt, mich einer Gefahr zu entreißen;
Sondern immer, im Herzen von tauſend Sorgen verwundet,
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Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781, S. 257. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/263>, abgerufen am 16.02.2025.
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