Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781.

Bild:
<< vorherige Seite

Zwölfter Gesang.
Als nun die dämmernde Frühe mit Rosenfingern erwachte,
Zogen wir unser Schiff in die felsenbeschattete Grotte,
Welche die schönen Reigen und Size der Nümfen verbirget.
Jezo rief ich die Freunde zur Rathsversammlung, und sagte:

Freunde, wir haben ja noch im Schiffe zu eßen und trinken; 320
Darum schonet der Rinder, daß uns kein Böses begegne!
Diese Rinder und Schafe sind jenes furchtbaren Gottes
Hälios Eigenthum, der alles siehet und höret.

Also sprach ich, und zwang ihr edles Herz zum Gehorsam.
Aber der Süd durchstürmte den ganzen Monat, und niemals 325
Hub sich ein anderer Wind, als der Ost und der herschende Südwind.
Doch solang' es an Speis' und rothem Weine nicht fehlte,
Schoneten jene der Rinder, ihr süßes Leben zu retten.
Und da endlich im Schiffe der ganze Vorrat verzehrt war,
Streiften sie alle aus Noth, vom nagenden Hunger gefoltert, 330
Durch die Insel umher, mit krummer Angel sich Fische
Oder Vögel zu fangen, was ihren Händen nur vorkam.
Jezo ging ich allein durch die Insel, um einsam die Götter
Anzuflehn, ob einer den Weg mir zeigte zur Heimkehr.
Als ich, die Insel durchgehend, mich weit von den Freunden entfernet, 335
Am windfreien Gestade; da wusch ich die Händ', und flehte
Alle Götter an, die Bewohner des hohen Olümpos.
Und sie deckten mir sanft die Augen mit süßem Schlummer.

Aber Eurülochos reizte die andern Freunde zum Bösen:
Höret meine Worte, ihr theuren Genoßen im Unglück. 340
Zwar ist jeglicher Tod den armen Sterblichen furchtbar;
Aber so jammervoll ist keiner, als Hungers sterben.

Q

Zwoͤlfter Geſang.
Als nun die daͤmmernde Fruͤhe mit Roſenfingern erwachte,
Zogen wir unſer Schiff in die felſenbeſchattete Grotte,
Welche die ſchoͤnen Reigen und Size der Nuͤmfen verbirget.
Jezo rief ich die Freunde zur Rathsverſammlung, und ſagte:

Freunde, wir haben ja noch im Schiffe zu eßen und trinken; 320
Darum ſchonet der Rinder, daß uns kein Boͤſes begegne!
Dieſe Rinder und Schafe ſind jenes furchtbaren Gottes
Haͤlios Eigenthum, der alles ſiehet und hoͤret.

Alſo ſprach ich, und zwang ihr edles Herz zum Gehorſam.
Aber der Suͤd durchſtuͤrmte den ganzen Monat, und niemals 325
Hub ſich ein anderer Wind, als der Oſt und der herſchende Suͤdwind.
Doch ſolang' es an Speiſ' und rothem Weine nicht fehlte,
Schoneten jene der Rinder, ihr ſuͤßes Leben zu retten.
Und da endlich im Schiffe der ganze Vorrat verzehrt war,
Streiften ſie alle aus Noth, vom nagenden Hunger gefoltert, 330
Durch die Inſel umher, mit krummer Angel ſich Fiſche
Oder Voͤgel zu fangen, was ihren Haͤnden nur vorkam.
Jezo ging ich allein durch die Inſel, um einſam die Goͤtter
Anzuflehn, ob einer den Weg mir zeigte zur Heimkehr.
Als ich, die Inſel durchgehend, mich weit von den Freunden entfernet, 335
Am windfreien Geſtade; da wuſch ich die Haͤnd', und flehte
Alle Goͤtter an, die Bewohner des hohen Oluͤmpos.
Und ſie deckten mir ſanft die Augen mit ſuͤßem Schlummer.

Aber Euruͤlochos reizte die andern Freunde zum Boͤſen:
Hoͤret meine Worte, ihr theuren Genoßen im Ungluͤck. 340
Zwar iſt jeglicher Tod den armen Sterblichen furchtbar;
Aber ſo jammervoll iſt keiner, als Hungers ſterben.

Q
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0247" n="241"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Zwo&#x0364;lfter Ge&#x017F;ang.</hi></fw><lb/>
Als nun die da&#x0364;mmernde Fru&#x0364;he mit Ro&#x017F;enfingern erwachte,<lb/>
Zogen wir un&#x017F;er Schiff in die fel&#x017F;enbe&#x017F;chattete Grotte,<lb/>
Welche die &#x017F;cho&#x0364;nen Reigen und Size der Nu&#x0364;mfen verbirget.<lb/>
Jezo rief ich die Freunde zur Rathsver&#x017F;ammlung, und &#x017F;agte:</p><lb/>
        <p>Freunde, wir haben ja noch im Schiffe zu eßen und trinken; <note place="right">320</note><lb/>
Darum &#x017F;chonet der Rinder, daß uns kein Bo&#x0364;&#x017F;es begegne!<lb/>
Die&#x017F;e Rinder und Schafe &#x017F;ind <choice><sic>jeues</sic><corr>jenes</corr></choice> furchtbaren Gottes<lb/>
Ha&#x0364;lios Eigenthum, der alles &#x017F;iehet und ho&#x0364;ret.</p><lb/>
        <p>Al&#x017F;o &#x017F;prach ich, und zwang ihr edles Herz zum Gehor&#x017F;am.<lb/>
Aber der Su&#x0364;d durch&#x017F;tu&#x0364;rmte den ganzen Monat, und niemals <note place="right">325</note><lb/>
Hub &#x017F;ich ein anderer Wind, als der O&#x017F;t und der her&#x017F;chende Su&#x0364;dwind.<lb/>
Doch &#x017F;olang' es an Spei&#x017F;' und rothem Weine nicht fehlte,<lb/>
Schoneten jene der Rinder, ihr &#x017F;u&#x0364;ßes Leben zu retten.<lb/>
Und da endlich im Schiffe der ganze Vorrat verzehrt war,<lb/>
Streiften &#x017F;ie alle aus Noth, vom nagenden Hunger gefoltert, <note place="right">330</note><lb/>
Durch die In&#x017F;el umher, mit krummer Angel &#x017F;ich Fi&#x017F;che<lb/>
Oder Vo&#x0364;gel zu fangen, was ihren Ha&#x0364;nden nur vorkam.<lb/>
Jezo ging ich allein durch die In&#x017F;el, um ein&#x017F;am die Go&#x0364;tter<lb/>
Anzuflehn, ob einer den Weg mir zeigte zur Heimkehr.<lb/>
Als ich, die In&#x017F;el durchgehend, mich weit von den Freunden entfernet, <note place="right">335</note><lb/>
Am windfreien Ge&#x017F;tade; da wu&#x017F;ch ich die Ha&#x0364;nd', und flehte<lb/>
Alle Go&#x0364;tter an, die Bewohner des hohen Olu&#x0364;mpos.<lb/>
Und &#x017F;ie deckten mir &#x017F;anft die Augen mit &#x017F;u&#x0364;ßem Schlummer.</p><lb/>
        <p>Aber Euru&#x0364;lochos reizte die andern Freunde zum Bo&#x0364;&#x017F;en:<lb/>
Ho&#x0364;ret meine Worte, ihr theuren Genoßen im Unglu&#x0364;ck. <note place="right">340</note><lb/>
Zwar i&#x017F;t jeglicher Tod den armen Sterblichen furchtbar;<lb/>
Aber &#x017F;o jammervoll i&#x017F;t keiner, als Hungers &#x017F;terben.<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">Q</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[241/0247] Zwoͤlfter Geſang. Als nun die daͤmmernde Fruͤhe mit Roſenfingern erwachte, Zogen wir unſer Schiff in die felſenbeſchattete Grotte, Welche die ſchoͤnen Reigen und Size der Nuͤmfen verbirget. Jezo rief ich die Freunde zur Rathsverſammlung, und ſagte: Freunde, wir haben ja noch im Schiffe zu eßen und trinken; Darum ſchonet der Rinder, daß uns kein Boͤſes begegne! Dieſe Rinder und Schafe ſind jenes furchtbaren Gottes Haͤlios Eigenthum, der alles ſiehet und hoͤret. 320 Alſo ſprach ich, und zwang ihr edles Herz zum Gehorſam. Aber der Suͤd durchſtuͤrmte den ganzen Monat, und niemals Hub ſich ein anderer Wind, als der Oſt und der herſchende Suͤdwind. Doch ſolang' es an Speiſ' und rothem Weine nicht fehlte, Schoneten jene der Rinder, ihr ſuͤßes Leben zu retten. Und da endlich im Schiffe der ganze Vorrat verzehrt war, Streiften ſie alle aus Noth, vom nagenden Hunger gefoltert, Durch die Inſel umher, mit krummer Angel ſich Fiſche Oder Voͤgel zu fangen, was ihren Haͤnden nur vorkam. Jezo ging ich allein durch die Inſel, um einſam die Goͤtter Anzuflehn, ob einer den Weg mir zeigte zur Heimkehr. Als ich, die Inſel durchgehend, mich weit von den Freunden entfernet, Am windfreien Geſtade; da wuſch ich die Haͤnd', und flehte Alle Goͤtter an, die Bewohner des hohen Oluͤmpos. Und ſie deckten mir ſanft die Augen mit ſuͤßem Schlummer. 325 330 335 Aber Euruͤlochos reizte die andern Freunde zum Boͤſen: Hoͤret meine Worte, ihr theuren Genoßen im Ungluͤck. Zwar iſt jeglicher Tod den armen Sterblichen furchtbar; Aber ſo jammervoll iſt keiner, als Hungers ſterben. 340 Q

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/247
Zitationshilfe: Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781, S. 241. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/247>, abgerufen am 23.11.2024.