Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781.

Bild:
<< vorherige Seite

Odüßee.
Und dem Strale des hochhinwandelnden Sonnenbeherschers.
Hierauf ging ich umher, und verkleibte die Ohren der Freunde.
Jene banden mich jezo an Händen und Füßen im Schiffe,
Aufrecht stehend am Maste, mit festumschlungenen Seilen;
Sezten sich dann, und schlugen die graue Woge mit Rudern. 180
Als wir jezo so weit, wie die Stimme des Rufenden schallet,
Kamen im eilenden Lauf; da erblickten jene das nahe
Meerdurchgleitende Schiff, und huben den hellen Gesang an:

Komm, besungner Odüßeus, du großer Ruhm der Achaier!
Lenke dein Schiff ans Land, und horche unserer Stimme. 185
Denn hier steurte noch keiner im schwarzen Schiffe vorüber,
Eh er dem süßen Gesang' aus unserem Munde gelauschet;
Und dann ging er von hinnen, vergnügt und weiser wie vormals.
Uns ist alles bekannt, was ihr Argeier und Troer
Durch der Götter Verhängniß in Troja's Fluren geduldet: 190
Alles, was irgend geschieht auf der lebenschenkenden Erde!

Also sangen jene voll Anmut. Heißes Verlangen
Fühlt' ich weiter zu hören, und winkte den Freunden Befehle,
Meine Bande zu lösen; doch hurtiger ruderten diese.
Und es erhuben sich schnell Eurülochos und Perimädäs, 195
Legten noch mehrere Feßeln mir an, und banden mich stärker.
Also steuerten wir den Sirenen vorüber; und leiser,
Immer leiser, verhallte der Singenden Lied und Stimme.
Eilend nahmen sich nun die theuren Genoßen des Schiffes
Von den Ohren das Wachs, und lösten mich wieder vom Mastbaum. 200

Als wir jezo der Insel entruderten, sah ich von ferne
Dampf und brandende Flut, und hört' ein dumpfes Getöse.
Schnell entflogen den Händen der zitternden Freunde die Ruder;

Oduͤßee.
Und dem Strale des hochhinwandelnden Sonnenbeherſchers.
Hierauf ging ich umher, und verkleibte die Ohren der Freunde.
Jene banden mich jezo an Haͤnden und Fuͤßen im Schiffe,
Aufrecht ſtehend am Maſte, mit feſtumſchlungenen Seilen;
Sezten ſich dann, und ſchlugen die graue Woge mit Rudern. 180
Als wir jezo ſo weit, wie die Stimme des Rufenden ſchallet,
Kamen im eilenden Lauf; da erblickten jene das nahe
Meerdurchgleitende Schiff, und huben den hellen Geſang an:

Komm, beſungner Oduͤßeus, du großer Ruhm der Achaier!
Lenke dein Schiff ans Land, und horche unſerer Stimme. 185
Denn hier ſteurte noch keiner im ſchwarzen Schiffe voruͤber,
Eh er dem ſuͤßen Geſang' aus unſerem Munde gelauſchet;
Und dann ging er von hinnen, vergnuͤgt und weiſer wie vormals.
Uns iſt alles bekannt, was ihr Argeier und Troer
Durch der Goͤtter Verhaͤngniß in Troja's Fluren geduldet: 190
Alles, was irgend geſchieht auf der lebenſchenkenden Erde!

Alſo ſangen jene voll Anmut. Heißes Verlangen
Fuͤhlt' ich weiter zu hoͤren, und winkte den Freunden Befehle,
Meine Bande zu loͤſen; doch hurtiger ruderten dieſe.
Und es erhuben ſich ſchnell Euruͤlochos und Perimaͤdaͤs, 195
Legten noch mehrere Feßeln mir an, und banden mich ſtaͤrker.
Alſo ſteuerten wir den Sirenen voruͤber; und leiſer,
Immer leiſer, verhallte der Singenden Lied und Stimme.
Eilend nahmen ſich nun die theuren Genoßen des Schiffes
Von den Ohren das Wachs, und loͤſten mich wieder vom Maſtbaum. 200

Als wir jezo der Inſel entruderten, ſah ich von ferne
Dampf und brandende Flut, und hoͤrt' ein dumpfes Getoͤſe.
Schnell entflogen den Haͤnden der zitternden Freunde die Ruder;

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0242" n="236"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Odu&#x0364;ßee.</hi></fw><lb/>
Und dem Strale des hochhinwandelnden Sonnenbeher&#x017F;chers.<lb/>
Hierauf ging ich umher, und verkleibte die Ohren der Freunde.<lb/>
Jene banden mich jezo an Ha&#x0364;nden und Fu&#x0364;ßen im Schiffe,<lb/>
Aufrecht &#x017F;tehend am Ma&#x017F;te, mit fe&#x017F;tum&#x017F;chlungenen Seilen;<lb/>
Sezten &#x017F;ich dann, und &#x017F;chlugen die graue Woge mit Rudern. <note place="right">180</note><lb/>
Als wir jezo &#x017F;o weit, wie die Stimme des Rufenden &#x017F;challet,<lb/>
Kamen im eilenden Lauf; da erblickten jene das nahe<lb/>
Meerdurchgleitende Schiff, und huben den hellen Ge&#x017F;ang an:</p><lb/>
        <p>Komm, be&#x017F;ungner Odu&#x0364;ßeus, du großer Ruhm der Achaier!<lb/>
Lenke dein Schiff ans Land, und horche un&#x017F;erer Stimme. <note place="right">185</note><lb/>
Denn hier &#x017F;teurte noch keiner im &#x017F;chwarzen Schiffe voru&#x0364;ber,<lb/>
Eh er dem &#x017F;u&#x0364;ßen Ge&#x017F;ang' aus un&#x017F;erem Munde gelau&#x017F;chet;<lb/>
Und dann ging er von hinnen, vergnu&#x0364;gt und wei&#x017F;er wie vormals.<lb/>
Uns i&#x017F;t alles bekannt, was ihr Argeier und Troer<lb/>
Durch der Go&#x0364;tter Verha&#x0364;ngniß in Troja's Fluren geduldet: <note place="right">190</note><lb/>
Alles, was irgend ge&#x017F;chieht auf der leben&#x017F;chenkenden Erde!</p><lb/>
        <p>Al&#x017F;o &#x017F;angen jene voll Anmut. Heißes Verlangen<lb/>
Fu&#x0364;hlt' ich weiter zu ho&#x0364;ren, und winkte den Freunden Befehle,<lb/>
Meine Bande zu lo&#x0364;&#x017F;en; doch hurtiger ruderten die&#x017F;e.<lb/>
Und es erhuben &#x017F;ich &#x017F;chnell Euru&#x0364;lochos und Perima&#x0364;da&#x0364;s, <note place="right">195</note><lb/>
Legten noch mehrere Feßeln mir an, und banden mich &#x017F;ta&#x0364;rker.<lb/>
Al&#x017F;o &#x017F;teuerten wir den Sirenen voru&#x0364;ber; und lei&#x017F;er,<lb/>
Immer lei&#x017F;er, verhallte der Singenden Lied und Stimme.<lb/>
Eilend nahmen &#x017F;ich nun die theuren Genoßen des Schiffes<lb/>
Von den Ohren das Wachs, und lo&#x0364;&#x017F;ten mich wieder vom Ma&#x017F;tbaum. <note place="right">200</note></p><lb/>
        <p>Als wir jezo der In&#x017F;el entruderten, &#x017F;ah ich von ferne<lb/>
Dampf und brandende Flut, und ho&#x0364;rt' ein dumpfes Geto&#x0364;&#x017F;e.<lb/>
Schnell entflogen den Ha&#x0364;nden der zitternden Freunde die Ruder;<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[236/0242] Oduͤßee. Und dem Strale des hochhinwandelnden Sonnenbeherſchers. Hierauf ging ich umher, und verkleibte die Ohren der Freunde. Jene banden mich jezo an Haͤnden und Fuͤßen im Schiffe, Aufrecht ſtehend am Maſte, mit feſtumſchlungenen Seilen; Sezten ſich dann, und ſchlugen die graue Woge mit Rudern. Als wir jezo ſo weit, wie die Stimme des Rufenden ſchallet, Kamen im eilenden Lauf; da erblickten jene das nahe Meerdurchgleitende Schiff, und huben den hellen Geſang an: 180 Komm, beſungner Oduͤßeus, du großer Ruhm der Achaier! Lenke dein Schiff ans Land, und horche unſerer Stimme. Denn hier ſteurte noch keiner im ſchwarzen Schiffe voruͤber, Eh er dem ſuͤßen Geſang' aus unſerem Munde gelauſchet; Und dann ging er von hinnen, vergnuͤgt und weiſer wie vormals. Uns iſt alles bekannt, was ihr Argeier und Troer Durch der Goͤtter Verhaͤngniß in Troja's Fluren geduldet: Alles, was irgend geſchieht auf der lebenſchenkenden Erde! 185 190 Alſo ſangen jene voll Anmut. Heißes Verlangen Fuͤhlt' ich weiter zu hoͤren, und winkte den Freunden Befehle, Meine Bande zu loͤſen; doch hurtiger ruderten dieſe. Und es erhuben ſich ſchnell Euruͤlochos und Perimaͤdaͤs, Legten noch mehrere Feßeln mir an, und banden mich ſtaͤrker. Alſo ſteuerten wir den Sirenen voruͤber; und leiſer, Immer leiſer, verhallte der Singenden Lied und Stimme. Eilend nahmen ſich nun die theuren Genoßen des Schiffes Von den Ohren das Wachs, und loͤſten mich wieder vom Maſtbaum. 195 200 Als wir jezo der Inſel entruderten, ſah ich von ferne Dampf und brandende Flut, und hoͤrt' ein dumpfes Getoͤſe. Schnell entflogen den Haͤnden der zitternden Freunde die Ruder;

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/242
Zitationshilfe: Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781, S. 236. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/242>, abgerufen am 24.11.2024.