Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781.

Bild:
<< vorherige Seite
Neunter Gesang.

Also sprach er, und ließ den Widder von sich hinausgehn.
Als wir uns von der Höhl' und dem Hof' ein wenig entfernet,
Macht' ich zuerst vom Widder mich los, und löste die andern.
Eilend trieben wir jezo die wohlgemästeten großen
Hochgeschenkelten Böcke durch mancherlei Krümmen zum Schiffe. 465
Und mit herzlicher Freud' empfingen die lieben Gefährten
Uns Entflohne des Todes, und klagten schluchzend die andern.
Aber ich ließ es nicht zu; ich deutete jedem mit Blicken,
Nicht zu weinen; befahl dann, die schöne wollichte Heerde
Hurtig ins Schiff zu werfen, und über die Wogen zu steuern. 470
Und sie traten ins Schiff, und sezten sich hin auf die Bänke,
Saßen in Reihn, und schlugen die graue Woge mit Rudern.
Als ich so weit nun war, wie die Stimme des Rufenden schallet,
Da begann ich, und rief dem Küklopen mit schmähenden Worten:

Ha, Küklope, so recht! Nicht eines Feigen Gefährten 475
Hast du, wütiger Ries', in der dunkeln Höhle gefreßen!
Lange hattest du das mit deinen Sünden verschuldet!
Grausamer, weil du die Gäste nicht scheutest in deiner Behausung
Aufzuschlucken; drum strafte dich Zeus und die übrigen Götter!

Also rief ich, Noch wütender tobte der blinde Küklope, 480
Riß herunter und warf den Gipfel des hohen Gebirges.
Aber er fiel jenseits des blaugeschnäbelten Schiffes V. 482.
Nieder, und wenig gefehlt, so traf er die Spize des Steuers.
Hochauf wogte das Meer von dem stürzenden Felsen, und plözlich
Rafte mit Ungestüm der strudelnde Schwall der Gewäßer, 485

V. 482. Odüßeus fuhr von der Spize, wo er gelandet war, so weit nach der
andern Spize des Meerbusens, daß er den Küklopen abrufen konnte, und hatte
das Vordertheil des Schiffes nach der Höhle gewandt.
Neunter Geſang.

Alſo ſprach er, und ließ den Widder von ſich hinausgehn.
Als wir uns von der Hoͤhl' und dem Hof' ein wenig entfernet,
Macht' ich zuerſt vom Widder mich los, und loͤſte die andern.
Eilend trieben wir jezo die wohlgemaͤſteten großen
Hochgeſchenkelten Boͤcke durch mancherlei Kruͤmmen zum Schiffe. 465
Und mit herzlicher Freud' empfingen die lieben Gefaͤhrten
Uns Entflohne des Todes, und klagten ſchluchzend die andern.
Aber ich ließ es nicht zu; ich deutete jedem mit Blicken,
Nicht zu weinen; befahl dann, die ſchoͤne wollichte Heerde
Hurtig ins Schiff zu werfen, und uͤber die Wogen zu ſteuern. 470
Und ſie traten ins Schiff, und ſezten ſich hin auf die Baͤnke,
Saßen in Reihn, und ſchlugen die graue Woge mit Rudern.
Als ich ſo weit nun war, wie die Stimme des Rufenden ſchallet,
Da begann ich, und rief dem Kuͤklopen mit ſchmaͤhenden Worten:

Ha, Kuͤklope, ſo recht! Nicht eines Feigen Gefaͤhrten 475
Haſt du, wuͤtiger Rieſ', in der dunkeln Hoͤhle gefreßen!
Lange hatteſt du das mit deinen Suͤnden verſchuldet!
Grauſamer, weil du die Gaͤſte nicht ſcheuteſt in deiner Behauſung
Aufzuſchlucken; drum ſtrafte dich Zeus und die uͤbrigen Goͤtter!

Alſo rief ich, Noch wuͤtender tobte der blinde Kuͤklope, 480
Riß herunter und warf den Gipfel des hohen Gebirges.
Aber er fiel jenſeits des blaugeſchnaͤbelten Schiffes V. 482.
Nieder, und wenig gefehlt, ſo traf er die Spize des Steuers.
Hochauf wogte das Meer von dem ſtuͤrzenden Felſen, und ploͤzlich
Rafte mit Ungeſtuͤm der ſtrudelnde Schwall der Gewaͤßer, 485

V. 482. Oduͤßeus fuhr von der Spize, wo er gelandet war, ſo weit nach der
andern Spize des Meerbuſens, daß er den Kuͤklopen abrufen konnte, und hatte
das Vordertheil des Schiffes nach der Hoͤhle gewandt.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0185" n="179"/>
        <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#g">Neunter Ge&#x017F;ang.</hi> </fw><lb/>
        <p>Al&#x017F;o &#x017F;prach er, und ließ den Widder von &#x017F;ich hinausgehn.<lb/>
Als wir uns von der Ho&#x0364;hl' und dem Hof' ein wenig entfernet,<lb/>
Macht' ich zuer&#x017F;t vom Widder mich los, und lo&#x0364;&#x017F;te die andern.<lb/>
Eilend trieben wir jezo die wohlgema&#x0364;&#x017F;teten großen<lb/>
Hochge&#x017F;chenkelten Bo&#x0364;cke durch mancherlei Kru&#x0364;mmen zum Schiffe. <note place="right">465</note><lb/>
Und mit herzlicher Freud' empfingen die lieben Gefa&#x0364;hrten<lb/>
Uns Entflohne des Todes, und klagten &#x017F;chluchzend die andern.<lb/>
Aber ich ließ es nicht zu; ich deutete jedem mit Blicken,<lb/>
Nicht zu weinen; befahl dann, die &#x017F;cho&#x0364;ne wollichte Heerde<lb/>
Hurtig ins Schiff zu werfen, und u&#x0364;ber die Wogen zu &#x017F;teuern. <note place="right">470</note><lb/>
Und &#x017F;ie traten ins Schiff, und &#x017F;ezten &#x017F;ich hin auf die Ba&#x0364;nke,<lb/>
Saßen in Reihn, und &#x017F;chlugen die graue Woge mit Rudern.<lb/>
Als ich &#x017F;o weit nun war, wie die Stimme des Rufenden &#x017F;challet,<lb/>
Da begann ich, und rief dem Ku&#x0364;klopen mit &#x017F;chma&#x0364;henden Worten:</p><lb/>
        <p>Ha, Ku&#x0364;klope, &#x017F;o recht! Nicht eines Feigen Gefa&#x0364;hrten <note place="right">475</note><lb/>
Ha&#x017F;t du, wu&#x0364;tiger Rie&#x017F;', in der dunkeln Ho&#x0364;hle gefreßen!<lb/>
Lange hatte&#x017F;t du das mit deinen Su&#x0364;nden ver&#x017F;chuldet!<lb/>
Grau&#x017F;amer, weil du die Ga&#x0364;&#x017F;te nicht &#x017F;cheute&#x017F;t in deiner Behau&#x017F;ung<lb/>
Aufzu&#x017F;chlucken; drum &#x017F;trafte dich Zeus und die u&#x0364;brigen Go&#x0364;tter!</p><lb/>
        <p>Al&#x017F;o rief ich, Noch wu&#x0364;tender tobte der blinde Ku&#x0364;klope, <note place="right">480</note><lb/>
Riß herunter und warf den Gipfel des hohen Gebirges.<lb/>
Aber er fiel jen&#x017F;eits des blauge&#x017F;chna&#x0364;belten Schiffes <note place="foot" n="V. 482.">Odu&#x0364;ßeus fuhr von der Spize, wo er gelandet war, &#x017F;o weit nach der<lb/>
andern Spize des Meerbu&#x017F;ens, daß er den Ku&#x0364;klopen abrufen konnte, und hatte<lb/>
das Vordertheil des Schiffes nach der Ho&#x0364;hle gewandt.</note><lb/>
Nieder, und wenig gefehlt, &#x017F;o traf er die Spize des Steuers.<lb/>
Hochauf wogte das Meer von dem &#x017F;tu&#x0364;rzenden Fel&#x017F;en, und plo&#x0364;zlich<lb/>
Rafte mit Unge&#x017F;tu&#x0364;m der &#x017F;trudelnde Schwall der Gewa&#x0364;ßer, <note place="right">485</note><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[179/0185] Neunter Geſang. Alſo ſprach er, und ließ den Widder von ſich hinausgehn. Als wir uns von der Hoͤhl' und dem Hof' ein wenig entfernet, Macht' ich zuerſt vom Widder mich los, und loͤſte die andern. Eilend trieben wir jezo die wohlgemaͤſteten großen Hochgeſchenkelten Boͤcke durch mancherlei Kruͤmmen zum Schiffe. Und mit herzlicher Freud' empfingen die lieben Gefaͤhrten Uns Entflohne des Todes, und klagten ſchluchzend die andern. Aber ich ließ es nicht zu; ich deutete jedem mit Blicken, Nicht zu weinen; befahl dann, die ſchoͤne wollichte Heerde Hurtig ins Schiff zu werfen, und uͤber die Wogen zu ſteuern. Und ſie traten ins Schiff, und ſezten ſich hin auf die Baͤnke, Saßen in Reihn, und ſchlugen die graue Woge mit Rudern. Als ich ſo weit nun war, wie die Stimme des Rufenden ſchallet, Da begann ich, und rief dem Kuͤklopen mit ſchmaͤhenden Worten: 465 470 Ha, Kuͤklope, ſo recht! Nicht eines Feigen Gefaͤhrten Haſt du, wuͤtiger Rieſ', in der dunkeln Hoͤhle gefreßen! Lange hatteſt du das mit deinen Suͤnden verſchuldet! Grauſamer, weil du die Gaͤſte nicht ſcheuteſt in deiner Behauſung Aufzuſchlucken; drum ſtrafte dich Zeus und die uͤbrigen Goͤtter! 475 Alſo rief ich, Noch wuͤtender tobte der blinde Kuͤklope, Riß herunter und warf den Gipfel des hohen Gebirges. Aber er fiel jenſeits des blaugeſchnaͤbelten Schiffes V. 482. Nieder, und wenig gefehlt, ſo traf er die Spize des Steuers. Hochauf wogte das Meer von dem ſtuͤrzenden Felſen, und ploͤzlich Rafte mit Ungeſtuͤm der ſtrudelnde Schwall der Gewaͤßer, 480 485 V. 482. Oduͤßeus fuhr von der Spize, wo er gelandet war, ſo weit nach der andern Spize des Meerbuſens, daß er den Kuͤklopen abrufen konnte, und hatte das Vordertheil des Schiffes nach der Hoͤhle gewandt.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/185
Zitationshilfe: Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781, S. 179. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/185>, abgerufen am 22.11.2024.