Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781.

Bild:
<< vorherige Seite

Neunter Gesang.
Weinend erhuben wir die Hände zum Vater Kronion,
Als wir den Jammer sahn, und starres Entsezen ergriff uns.295
Doch kaum hatte der Riese den großen Wanst sich gestopfet
Mit dem Fraße von Menschenfleisch und dem lauteren Milchtrunk;
Siehe da lag er im Fels weithingestreckt bei dem Viehe.
Jezo stieg der Gedank' in meine zürnende Seele:
Näher zu gehn, das geschliffene Schwert von der Hüfte zu reißen,300
Und ihm die Brust zu durchgraben, wo Zwerchfell und Leber sich treffen,
Mit nachborender Faust; doch ein andrer Gedanke verdrängt' ihn.
Denn so hätt' ich uns selbst dem schrecklichen Tode geopfert:
Unsere Hände vermochten ja nicht, von der hohen Pforte
Abzuwälzen den mächtigen Fels, den der Riese davorschob.305
Drum erwarteten wir mit Seufzen die heilige Frühe.

Als die dämmernde Frühe mit Rosenfingern erwachte,
Zündet' er Feuer an, und melkte die Ziegen und Schafe
Nach der Ordnung, und legte den Müttern die Säugling' ans Euter.
Und nachdem er seine Geschäft' in Eile verrichtet,310
Packt' er abermal zween, und tischte die Stücke zum Schmaus' auf.
Nach dem Frühstück trieb er die feiste Heerd' aus der Höhle.
Spielend enthob er die Last des großen Spundes, und spielend
Sezt' er sie vor, als sezt' er auf seinen Köcher den Deckel.
Und nun trieb der Küklop mit gellendem Pfeifen die Heerde315
Auf das Gebirg'. Ich blieb in der Höhle mit tausend Entwürfen,
Rache zu üben, wenn mir Athänä Hülfe gewährte.
Aber von allen Entwürfen gefiel mir dieser am beßten.

Neben dem Stalle lag des Küklopen gewaltige Keule,
Grün, aus Olivenholze gehaun. Zum künftigen Stabe320
Dorrte sie hier an der Wand, und kam uns vor nach dem Ansehn,

Neunter Geſang.
Weinend erhuben wir die Haͤnde zum Vater Kronion,
Als wir den Jammer ſahn, und ſtarres Entſezen ergriff uns.295
Doch kaum hatte der Rieſe den großen Wanſt ſich geſtopfet
Mit dem Fraße von Menſchenfleiſch und dem lauteren Milchtrunk;
Siehe da lag er im Fels weithingeſtreckt bei dem Viehe.
Jezo ſtieg der Gedank' in meine zuͤrnende Seele:
Naͤher zu gehn, das geſchliffene Schwert von der Huͤfte zu reißen,300
Und ihm die Bruſt zu durchgraben, wo Zwerchfell und Leber ſich treffen,
Mit nachborender Fauſt; doch ein andrer Gedanke verdraͤngt' ihn.
Denn ſo haͤtt' ich uns ſelbſt dem ſchrecklichen Tode geopfert:
Unſere Haͤnde vermochten ja nicht, von der hohen Pforte
Abzuwaͤlzen den maͤchtigen Fels, den der Rieſe davorſchob.305
Drum erwarteten wir mit Seufzen die heilige Fruͤhe.

Als die daͤmmernde Fruͤhe mit Roſenfingern erwachte,
Zuͤndet' er Feuer an, und melkte die Ziegen und Schafe
Nach der Ordnung, und legte den Muͤttern die Saͤugling' ans Euter.
Und nachdem er ſeine Geſchaͤft' in Eile verrichtet,310
Packt' er abermal zween, und tiſchte die Stuͤcke zum Schmauſ' auf.
Nach dem Fruͤhſtuͤck trieb er die feiſte Heerd' aus der Hoͤhle.
Spielend enthob er die Laſt des großen Spundes, und ſpielend
Sezt' er ſie vor, als ſezt' er auf ſeinen Koͤcher den Deckel.
Und nun trieb der Kuͤklop mit gellendem Pfeifen die Heerde315
Auf das Gebirg'. Ich blieb in der Hoͤhle mit tauſend Entwuͤrfen,
Rache zu uͤben, wenn mir Athaͤnaͤ Huͤlfe gewaͤhrte.
Aber von allen Entwuͤrfen gefiel mir dieſer am beßten.

Neben dem Stalle lag des Kuͤklopen gewaltige Keule,
Gruͤn, aus Olivenholze gehaun. Zum kuͤnftigen Stabe320
Dorrte ſie hier an der Wand, und kam uns vor nach dem Anſehn,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0179" n="173"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Neunter Ge&#x017F;ang.</hi></fw><lb/>
Weinend erhuben wir die Ha&#x0364;nde zum Vater Kronion,<lb/>
Als wir den Jammer &#x017F;ahn, und &#x017F;tarres Ent&#x017F;ezen ergriff uns.<note place="right">295</note><lb/>
Doch kaum hatte der Rie&#x017F;e den großen Wan&#x017F;t &#x017F;ich ge&#x017F;topfet<lb/>
Mit dem Fraße von Men&#x017F;chenflei&#x017F;ch und dem lauteren Milchtrunk;<lb/>
Siehe da lag er im Fels weithinge&#x017F;treckt bei dem Viehe.<lb/>
Jezo &#x017F;tieg der Gedank' in meine zu&#x0364;rnende Seele:<lb/>
Na&#x0364;her zu gehn, das ge&#x017F;chliffene Schwert von der Hu&#x0364;fte zu reißen,<note place="right">300</note><lb/>
Und ihm die Bru&#x017F;t zu durchgraben, wo Zwerchfell und Leber &#x017F;ich treffen,<lb/>
Mit nachborender Fau&#x017F;t; doch ein andrer Gedanke verdra&#x0364;ngt' ihn.<lb/>
Denn &#x017F;o ha&#x0364;tt' ich uns &#x017F;elb&#x017F;t dem &#x017F;chrecklichen Tode geopfert:<lb/>
Un&#x017F;ere Ha&#x0364;nde vermochten ja nicht, von der hohen Pforte<lb/>
Abzuwa&#x0364;lzen den ma&#x0364;chtigen Fels, den der Rie&#x017F;e davor&#x017F;chob.<note place="right">305</note><lb/>
Drum erwarteten wir mit Seufzen die heilige Fru&#x0364;he.</p><lb/>
        <p>Als die da&#x0364;mmernde Fru&#x0364;he mit Ro&#x017F;enfingern erwachte,<lb/>
Zu&#x0364;ndet' er Feuer an, und melkte die Ziegen und Schafe<lb/>
Nach der Ordnung, und legte den Mu&#x0364;ttern die Sa&#x0364;ugling' ans Euter.<lb/>
Und nachdem er &#x017F;eine Ge&#x017F;cha&#x0364;ft' in Eile verrichtet,<note place="right">310</note><lb/>
Packt' er abermal zween, und ti&#x017F;chte die Stu&#x0364;cke zum Schmau&#x017F;' auf.<lb/>
Nach dem Fru&#x0364;h&#x017F;tu&#x0364;ck trieb er die fei&#x017F;te Heerd' aus der Ho&#x0364;hle.<lb/>
Spielend enthob er die La&#x017F;t des großen Spundes, und &#x017F;pielend<lb/>
Sezt' er &#x017F;ie vor, als &#x017F;ezt' er auf &#x017F;einen Ko&#x0364;cher den Deckel.<lb/>
Und nun trieb der Ku&#x0364;klop mit gellendem Pfeifen die Heerde<note place="right">315</note><lb/>
Auf das Gebirg'. Ich blieb in der Ho&#x0364;hle mit tau&#x017F;end Entwu&#x0364;rfen,<lb/>
Rache zu u&#x0364;ben, wenn mir Atha&#x0364;na&#x0364; Hu&#x0364;lfe gewa&#x0364;hrte.<lb/>
Aber von allen Entwu&#x0364;rfen gefiel mir die&#x017F;er am beßten.</p><lb/>
        <p>Neben dem Stalle lag des Ku&#x0364;klopen gewaltige Keule,<lb/>
Gru&#x0364;n, aus Olivenholze gehaun. Zum ku&#x0364;nftigen Stabe<note place="right">320</note><lb/>
Dorrte &#x017F;ie hier an der Wand, und kam uns vor nach dem An&#x017F;ehn,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[173/0179] Neunter Geſang. Weinend erhuben wir die Haͤnde zum Vater Kronion, Als wir den Jammer ſahn, und ſtarres Entſezen ergriff uns. Doch kaum hatte der Rieſe den großen Wanſt ſich geſtopfet Mit dem Fraße von Menſchenfleiſch und dem lauteren Milchtrunk; Siehe da lag er im Fels weithingeſtreckt bei dem Viehe. Jezo ſtieg der Gedank' in meine zuͤrnende Seele: Naͤher zu gehn, das geſchliffene Schwert von der Huͤfte zu reißen, Und ihm die Bruſt zu durchgraben, wo Zwerchfell und Leber ſich treffen, Mit nachborender Fauſt; doch ein andrer Gedanke verdraͤngt' ihn. Denn ſo haͤtt' ich uns ſelbſt dem ſchrecklichen Tode geopfert: Unſere Haͤnde vermochten ja nicht, von der hohen Pforte Abzuwaͤlzen den maͤchtigen Fels, den der Rieſe davorſchob. Drum erwarteten wir mit Seufzen die heilige Fruͤhe. 295 300 305 Als die daͤmmernde Fruͤhe mit Roſenfingern erwachte, Zuͤndet' er Feuer an, und melkte die Ziegen und Schafe Nach der Ordnung, und legte den Muͤttern die Saͤugling' ans Euter. Und nachdem er ſeine Geſchaͤft' in Eile verrichtet, Packt' er abermal zween, und tiſchte die Stuͤcke zum Schmauſ' auf. Nach dem Fruͤhſtuͤck trieb er die feiſte Heerd' aus der Hoͤhle. Spielend enthob er die Laſt des großen Spundes, und ſpielend Sezt' er ſie vor, als ſezt' er auf ſeinen Koͤcher den Deckel. Und nun trieb der Kuͤklop mit gellendem Pfeifen die Heerde Auf das Gebirg'. Ich blieb in der Hoͤhle mit tauſend Entwuͤrfen, Rache zu uͤben, wenn mir Athaͤnaͤ Huͤlfe gewaͤhrte. Aber von allen Entwuͤrfen gefiel mir dieſer am beßten. 310 315 Neben dem Stalle lag des Kuͤklopen gewaltige Keule, Gruͤn, aus Olivenholze gehaun. Zum kuͤnftigen Stabe Dorrte ſie hier an der Wand, und kam uns vor nach dem Anſehn, 320

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/179
Zitationshilfe: Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781, S. 173. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/179>, abgerufen am 24.11.2024.