Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781.

Bild:
<< vorherige Seite

Siebenter Gesang.
Weder an Kleidung noch Wuchs; ich gleiche sterblichen Menschen. 210
Kennt ihr einen, der euch der unglückseligste aller
Sterblichen scheint; ich bin ihm gleich zu achten an Elend!
Ja ich wüßte vielleicht noch größere Leiden zu nennen,
Welche der Götter Rath auf meine Seele gehäuft hat!
Aber erlaubt mir nun zu eßen, wie sehr ich auch traure. 215
Denn nichts ist unbändiger, als der zürnende Hunger,
Der mit tirannischer Wut an sich die Menschen errinnert,
Selbst den leidenden Mann mit tiefbekümmerter Seele.
Also bin ich von Herzen bekümmert; aber beständig
Fodert er Speis' und Trank, der Wüterich! und ich vergeße 220
Alles, was ich gelitten, bis ich den Hunger gesättigt.
Aber eilet, ihr Fürsten, sobald der Morgen sich röthet,
Mich unglücklichen Mann in meine Heimat zu senden!
Denn soviel ich erlitten, ich stürbe sogar um den Anblick
Meiner Güter und Knechte und meines hohen Palastes! 225

Also sprach er; da lobten ihn alle Fürsten, und riethen,
Heimzusenden den Gast, weil seine Bitte gerecht war.
Als sie des Trankes geopfert, und nach Verlangen getrunken;
Gingen sie alle heim, der süßen Ruhe zu pflegen.
Aber im Saale blieb der göttergleiche Odüßeus; 230
Neben ihm saß der König und seine Gemahlin Arätä;
Und die Mägde räumten des Mahls Geräthe von hinnen.
Jezo begann Arätä, die lilienarmige Fürstin;
Denn sie erkannte den Mantel und Rock, die schönen Gewande,
Welche sie selber gewirkt mit ihren dienenden Jungfraun; 235
Und sie redet' ihn an, und sprach die geflügelten Worte:

Hierum muß ich dich, Fremdling, vor allen Dingen befragen:

Siebenter Geſang.
Weder an Kleidung noch Wuchs; ich gleiche ſterblichen Menſchen. 210
Kennt ihr einen, der euch der ungluͤckſeligſte aller
Sterblichen ſcheint; ich bin ihm gleich zu achten an Elend!
Ja ich wuͤßte vielleicht noch groͤßere Leiden zu nennen,
Welche der Goͤtter Rath auf meine Seele gehaͤuft hat!
Aber erlaubt mir nun zu eßen, wie ſehr ich auch traure. 215
Denn nichts iſt unbaͤndiger, als der zuͤrnende Hunger,
Der mit tiranniſcher Wut an ſich die Menſchen errinnert,
Selbſt den leidenden Mann mit tiefbekuͤmmerter Seele.
Alſo bin ich von Herzen bekuͤmmert; aber beſtaͤndig
Fodert er Speiſ' und Trank, der Wuͤterich! und ich vergeße 220
Alles, was ich gelitten, bis ich den Hunger geſaͤttigt.
Aber eilet, ihr Fuͤrſten, ſobald der Morgen ſich roͤthet,
Mich ungluͤcklichen Mann in meine Heimat zu ſenden!
Denn ſoviel ich erlitten, ich ſtuͤrbe ſogar um den Anblick
Meiner Guͤter und Knechte und meines hohen Palaſtes! 225

Alſo ſprach er; da lobten ihn alle Fuͤrſten, und riethen,
Heimzuſenden den Gaſt, weil ſeine Bitte gerecht war.
Als ſie des Trankes geopfert, und nach Verlangen getrunken;
Gingen ſie alle heim, der ſuͤßen Ruhe zu pflegen.
Aber im Saale blieb der goͤttergleiche Oduͤßeus; 230
Neben ihm ſaß der Koͤnig und ſeine Gemahlin Araͤtaͤ;
Und die Maͤgde raͤumten des Mahls Geraͤthe von hinnen.
Jezo begann Araͤtaͤ, die lilienarmige Fuͤrſtin;
Denn ſie erkannte den Mantel und Rock, die ſchoͤnen Gewande,
Welche ſie ſelber gewirkt mit ihren dienenden Jungfraun; 235
Und ſie redet' ihn an, und ſprach die gefluͤgelten Worte:

Hierum muß ich dich, Fremdling, vor allen Dingen befragen:

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0141" n="135"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Siebenter Ge&#x017F;ang.</hi></fw><lb/>
Weder an Kleidung noch Wuchs; ich gleiche &#x017F;terblichen Men&#x017F;chen. <note place="right">210</note><lb/>
Kennt ihr einen, der euch der unglu&#x0364;ck&#x017F;elig&#x017F;te aller<lb/>
Sterblichen &#x017F;cheint; ich bin ihm gleich zu achten an Elend!<lb/>
Ja ich wu&#x0364;ßte vielleicht noch gro&#x0364;ßere Leiden zu nennen,<lb/>
Welche der Go&#x0364;tter Rath auf meine Seele geha&#x0364;uft hat!<lb/>
Aber erlaubt mir nun zu eßen, wie &#x017F;ehr ich auch traure. <note place="right">215</note><lb/>
Denn nichts i&#x017F;t unba&#x0364;ndiger, als der zu&#x0364;rnende Hunger,<lb/>
Der mit tiranni&#x017F;cher Wut an &#x017F;ich die Men&#x017F;chen errinnert,<lb/>
Selb&#x017F;t den leidenden Mann mit tiefbeku&#x0364;mmerter Seele.<lb/>
Al&#x017F;o bin ich von Herzen beku&#x0364;mmert; aber be&#x017F;ta&#x0364;ndig<lb/>
Fodert er Spei&#x017F;' und Trank, der Wu&#x0364;terich! und ich vergeße <note place="right">220</note><lb/>
Alles, was ich gelitten, bis ich den Hunger ge&#x017F;a&#x0364;ttigt.<lb/>
Aber eilet, ihr Fu&#x0364;r&#x017F;ten, &#x017F;obald der Morgen &#x017F;ich ro&#x0364;thet,<lb/>
Mich unglu&#x0364;cklichen Mann in meine Heimat zu &#x017F;enden!<lb/>
Denn &#x017F;oviel ich erlitten, ich &#x017F;tu&#x0364;rbe &#x017F;ogar um den Anblick<lb/>
Meiner Gu&#x0364;ter und Knechte und meines hohen Pala&#x017F;tes! <note place="right">225</note></p><lb/>
        <p>Al&#x017F;o &#x017F;prach er; da lobten ihn alle Fu&#x0364;r&#x017F;ten, und riethen,<lb/>
Heimzu&#x017F;enden den Ga&#x017F;t, weil &#x017F;eine Bitte gerecht war.<lb/>
Als &#x017F;ie des Trankes geopfert, und nach Verlangen getrunken;<lb/>
Gingen &#x017F;ie alle heim, der &#x017F;u&#x0364;ßen Ruhe zu pflegen.<lb/>
Aber im Saale blieb der go&#x0364;ttergleiche Odu&#x0364;ßeus; <note place="right">230</note><lb/>
Neben ihm &#x017F;aß der Ko&#x0364;nig und &#x017F;eine Gemahlin Ara&#x0364;ta&#x0364;;<lb/>
Und die Ma&#x0364;gde ra&#x0364;umten des Mahls Gera&#x0364;the von hinnen.<lb/>
Jezo begann Ara&#x0364;ta&#x0364;, die lilienarmige Fu&#x0364;r&#x017F;tin;<lb/>
Denn &#x017F;ie erkannte den Mantel und Rock, die &#x017F;cho&#x0364;nen Gewande,<lb/>
Welche &#x017F;ie &#x017F;elber gewirkt mit ihren dienenden Jungfraun; <note place="right">235</note><lb/>
Und &#x017F;ie redet' ihn an, und &#x017F;prach die geflu&#x0364;gelten Worte:</p><lb/>
        <p>Hierum muß ich dich, Fremdling, vor allen Dingen befragen:<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[135/0141] Siebenter Geſang. Weder an Kleidung noch Wuchs; ich gleiche ſterblichen Menſchen. Kennt ihr einen, der euch der ungluͤckſeligſte aller Sterblichen ſcheint; ich bin ihm gleich zu achten an Elend! Ja ich wuͤßte vielleicht noch groͤßere Leiden zu nennen, Welche der Goͤtter Rath auf meine Seele gehaͤuft hat! Aber erlaubt mir nun zu eßen, wie ſehr ich auch traure. Denn nichts iſt unbaͤndiger, als der zuͤrnende Hunger, Der mit tiranniſcher Wut an ſich die Menſchen errinnert, Selbſt den leidenden Mann mit tiefbekuͤmmerter Seele. Alſo bin ich von Herzen bekuͤmmert; aber beſtaͤndig Fodert er Speiſ' und Trank, der Wuͤterich! und ich vergeße Alles, was ich gelitten, bis ich den Hunger geſaͤttigt. Aber eilet, ihr Fuͤrſten, ſobald der Morgen ſich roͤthet, Mich ungluͤcklichen Mann in meine Heimat zu ſenden! Denn ſoviel ich erlitten, ich ſtuͤrbe ſogar um den Anblick Meiner Guͤter und Knechte und meines hohen Palaſtes! 210 215 220 225 Alſo ſprach er; da lobten ihn alle Fuͤrſten, und riethen, Heimzuſenden den Gaſt, weil ſeine Bitte gerecht war. Als ſie des Trankes geopfert, und nach Verlangen getrunken; Gingen ſie alle heim, der ſuͤßen Ruhe zu pflegen. Aber im Saale blieb der goͤttergleiche Oduͤßeus; Neben ihm ſaß der Koͤnig und ſeine Gemahlin Araͤtaͤ; Und die Maͤgde raͤumten des Mahls Geraͤthe von hinnen. Jezo begann Araͤtaͤ, die lilienarmige Fuͤrſtin; Denn ſie erkannte den Mantel und Rock, die ſchoͤnen Gewande, Welche ſie ſelber gewirkt mit ihren dienenden Jungfraun; Und ſie redet' ihn an, und ſprach die gefluͤgelten Worte: 230 235 Hierum muß ich dich, Fremdling, vor allen Dingen befragen:

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/141
Zitationshilfe: Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781, S. 135. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/141>, abgerufen am 24.11.2024.