Selbst ein unsterblicher Gott verweilete, wann er vorbeiging, Voll Verwunderung dort, und freute sich herzlich des Anblicks. Voll Verwunderung stand der rüstige Argosbesieger; 75 Und nachdem er alles in seinem Herzen bewundert, Ging er eilend hinein in die schöngewölbete Grotte. Ihn erkannte sogleich die hehre Göttin Kalüpso: Denn die unsterblichen Götter verkennen nimmer das Antliz Eines anderen Gottes, und wohnt' er auch ferne von dannen. 80 Aber nicht Odüßeus den herlichen fand er zu Hause; Weinend saß er am Ufer des Meers. Dort saß er gewöhnlich, Und zerquälte sein Herz mit Weinen und Seufzen und Jammern, Und durchschaute mit Thränen die große Wüste des Meeres. Aber dem Kommenden sezte die hehre Göttin Kalüpso 85 Einen prächtigen Thron von stralender Arbeit, und fragte:
Warum kamst du zu mir, du Gott mit goldenem Stabe, Hermäs, geehrter, geliebter? Denn sonst besuchst du mich niemals. Sage, was du verlangst; ich will es gerne gewähren, Steht es in meiner Macht, und sind es mögliche Dinge. 90 Aber komm doch näher, daß ich dich gastlich bewirte.
Also sprach Kalüpso, und sezte dem Gotte die Tafel Voll Ambrosia vor, und mischte röthlichen Nektar. Und nun aß er und trank, der rüstige Argosbesieger. Und nachdem er gegeßen, und seine Seele gelabet; 95 Da begann er und sprach zur hehren Göttin Kalüpso:
Fragst du, warum ich komme, du Göttin den Gott? Ich will dir Dieses alles genau verkündigen, wie du befiehlest. Zeus gebot mir hieher, ohn' meinen Willen, zu wandern! Denn wer ginge wohl gern durch dieses salzigen Meeres 100
Oduͤßee.
Selbſt ein unſterblicher Gott verweilete, wann er vorbeiging, Voll Verwunderung dort, und freute ſich herzlich des Anblicks. Voll Verwunderung ſtand der ruͤſtige Argosbeſieger; 75 Und nachdem er alles in ſeinem Herzen bewundert, Ging er eilend hinein in die ſchoͤngewoͤlbete Grotte. Ihn erkannte ſogleich die hehre Goͤttin Kaluͤpſo: Denn die unſterblichen Goͤtter verkennen nimmer das Antliz Eines anderen Gottes, und wohnt' er auch ferne von dannen. 80 Aber nicht Oduͤßeus den herlichen fand er zu Hauſe; Weinend ſaß er am Ufer des Meers. Dort ſaß er gewoͤhnlich, Und zerquaͤlte ſein Herz mit Weinen und Seufzen und Jammern, Und durchſchaute mit Thraͤnen die große Wuͤſte des Meeres. Aber dem Kommenden ſezte die hehre Goͤttin Kaluͤpſo 85 Einen praͤchtigen Thron von ſtralender Arbeit, und fragte:
Warum kamſt du zu mir, du Gott mit goldenem Stabe, Hermaͤs, geehrter, geliebter? Denn ſonſt beſuchſt du mich niemals. Sage, was du verlangſt; ich will es gerne gewaͤhren, Steht es in meiner Macht, und ſind es moͤgliche Dinge. 90 Aber komm doch naͤher, daß ich dich gaſtlich bewirte.
Alſo ſprach Kaluͤpſo, und ſezte dem Gotte die Tafel Voll Ambroſia vor, und miſchte roͤthlichen Nektar. Und nun aß er und trank, der ruͤſtige Argosbeſieger. Und nachdem er gegeßen, und ſeine Seele gelabet; 95 Da begann er und ſprach zur hehren Goͤttin Kaluͤpſo:
Fragſt du, warum ich komme, du Goͤttin den Gott? Ich will dir Dieſes alles genau verkuͤndigen, wie du befiehleſt. Zeus gebot mir hieher, ohn' meinen Willen, zu wandern! Denn wer ginge wohl gern durch dieſes ſalzigen Meeres 100
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Oduͤßee.
Selbſt ein unſterblicher Gott verweilete, wann er vorbeiging,
Voll Verwunderung dort, und freute ſich herzlich des Anblicks.
Voll Verwunderung ſtand der ruͤſtige Argosbeſieger;
Und nachdem er alles in ſeinem Herzen bewundert,
Ging er eilend hinein in die ſchoͤngewoͤlbete Grotte.
Ihn erkannte ſogleich die hehre Goͤttin Kaluͤpſo:
Denn die unſterblichen Goͤtter verkennen nimmer das Antliz
Eines anderen Gottes, und wohnt' er auch ferne von dannen.
Aber nicht Oduͤßeus den herlichen fand er zu Hauſe;
Weinend ſaß er am Ufer des Meers. Dort ſaß er gewoͤhnlich,
Und zerquaͤlte ſein Herz mit Weinen und Seufzen und Jammern,
Und durchſchaute mit Thraͤnen die große Wuͤſte des Meeres.
Aber dem Kommenden ſezte die hehre Goͤttin Kaluͤpſo
Einen praͤchtigen Thron von ſtralender Arbeit, und fragte:
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Warum kamſt du zu mir, du Gott mit goldenem Stabe,
Hermaͤs, geehrter, geliebter? Denn ſonſt beſuchſt du mich niemals.
Sage, was du verlangſt; ich will es gerne gewaͤhren,
Steht es in meiner Macht, und ſind es moͤgliche Dinge.
Aber komm doch naͤher, daß ich dich gaſtlich bewirte.
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Alſo ſprach Kaluͤpſo, und ſezte dem Gotte die Tafel
Voll Ambroſia vor, und miſchte roͤthlichen Nektar.
Und nun aß er und trank, der ruͤſtige Argosbeſieger.
Und nachdem er gegeßen, und ſeine Seele gelabet;
Da begann er und ſprach zur hehren Goͤttin Kaluͤpſo:
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Fragſt du, warum ich komme, du Goͤttin den Gott? Ich will dir
Dieſes alles genau verkuͤndigen, wie du befiehleſt.
Zeus gebot mir hieher, ohn' meinen Willen, zu wandern!
Denn wer ginge wohl gern durch dieſes ſalzigen Meeres
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Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781, S. 98. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/104>, abgerufen am 16.02.2025.
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