Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vogt, Carl: Untersuchungen über Thierstaaten. Frankfurt (Main), 1851.

Bild:
<< vorherige Seite

Gelbe Lichter, die Vorboten der Abendröthe spielten auf der spiegelglatten Fläche des Brienzersee's und verloren sich in tiefblauer Unbestimmtheit am Fuße des Rothhornes. Die steilen Matten des Augstmatthornes, die Felsabstürze des Faulhornes leuchteten über das Thal von Interlaken hinaus und um den Gipfel der Schwalmeren spielten einige leichte, duftige Wölkchen. Die Schnaken und Hafte am Ufer begannen sich zum Tanze zu rüsten. Ihre Puppen krochen über das feuchte Gelände hervor und zogen Leib, Füße und Flügel aus den unbeweglichen Hornscheiden, von welchen sie vorher umschlossen waren. Schon sah man hier und da über den Gesträuchen jene auf und ab wogenden Gesellschaften leichter Eintagsfliegen, die wie unbestimmte Rauchwölkchen an den Hecken hinschwebten und im Glanze der Abendsonne vergaßen, daß ein schneller Tod ihrer kurzen Freude ein Ende machen werde.

Der Hirschkäfer wartete der Dämmerung, um in Gesellschaft der Gattin seinen Abendflug machen zu können. Er lebte ehrsam und still auf dem Nußbaume, in dessen Mark er seine Jugendjahre zugebracht hatte. Morgens kletterte er auf den Zweigen umher und leckte mit seiner pinselartigen Unterlippe den Honigthau und den süßen Saft, der aus einigen Wunden des Baumes quoll; Nachmittags las er in alten Blättern, welche von Spanner- und Blattwickler-Raupen mit seltsamen Hieroglyphen beschrieben waren. Was Hirschkäfer aus entfernten Gegenden bei ihren einsamen Zügen in der Fremde den Verwandten berichtet hatten, was die Vorältern von befreundeten Familien, von Walkerkäfern aus dem Wallis, Nashornkäfern aus Norditalien, und weither kommenden Lucaniden aus den

Gelbe Lichter, die Vorboten der Abendröthe spielten auf der spiegelglatten Fläche des Brienzersee’s und verloren sich in tiefblauer Unbestimmtheit am Fuße des Rothhornes. Die steilen Matten des Augstmatthornes, die Felsabstürze des Faulhornes leuchteten über das Thal von Interlaken hinaus und um den Gipfel der Schwalmeren spielten einige leichte, duftige Wölkchen. Die Schnaken und Hafte am Ufer begannen sich zum Tanze zu rüsten. Ihre Puppen krochen über das feuchte Gelände hervor und zogen Leib, Füße und Flügel aus den unbeweglichen Hornscheiden, von welchen sie vorher umschlossen waren. Schon sah man hier und da über den Gesträuchen jene auf und ab wogenden Gesellschaften leichter Eintagsfliegen, die wie unbestimmte Rauchwölkchen an den Hecken hinschwebten und im Glanze der Abendsonne vergaßen, daß ein schneller Tod ihrer kurzen Freude ein Ende machen werde.

Der Hirschkäfer wartete der Dämmerung, um in Gesellschaft der Gattin seinen Abendflug machen zu können. Er lebte ehrsam und still auf dem Nußbaume, in dessen Mark er seine Jugendjahre zugebracht hatte. Morgens kletterte er auf den Zweigen umher und leckte mit seiner pinselartigen Unterlippe den Honigthau und den süßen Saft, der aus einigen Wunden des Baumes quoll; Nachmittags las er in alten Blättern, welche von Spanner- und Blattwickler-Raupen mit seltsamen Hieroglyphen beschrieben waren. Was Hirschkäfer aus entfernten Gegenden bei ihren einsamen Zügen in der Fremde den Verwandten berichtet hatten, was die Vorältern von befreundeten Familien, von Walkerkäfern aus dem Wallis, Nashornkäfern aus Norditalien, und weither kommenden Lucaniden aus den

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0151" n="123"/>
          <p>Gelbe Lichter, die Vorboten der Abendröthe spielten auf der spiegelglatten Fläche des Brienzersee&#x2019;s und verloren sich in tiefblauer Unbestimmtheit am Fuße des Rothhornes. Die steilen Matten des Augstmatthornes, die Felsabstürze des Faulhornes leuchteten über das Thal von Interlaken hinaus und um den Gipfel der Schwalmeren spielten einige leichte, duftige Wölkchen. Die Schnaken und Hafte am Ufer begannen sich zum Tanze zu rüsten. Ihre Puppen krochen über das feuchte Gelände hervor und zogen Leib, Füße und Flügel aus den unbeweglichen Hornscheiden, von welchen sie vorher umschlossen waren. Schon sah man hier und da über den Gesträuchen jene auf und ab wogenden Gesellschaften leichter Eintagsfliegen, die wie unbestimmte Rauchwölkchen an den Hecken hinschwebten und im Glanze der Abendsonne vergaßen, daß ein schneller Tod ihrer kurzen Freude ein Ende machen werde.</p>
          <p>Der Hirschkäfer wartete der Dämmerung, um in Gesellschaft der Gattin seinen Abendflug machen zu können. Er lebte ehrsam und still auf dem Nußbaume, in dessen Mark er seine Jugendjahre zugebracht hatte. Morgens kletterte er auf den Zweigen umher und leckte mit seiner pinselartigen Unterlippe den Honigthau und den süßen Saft, der aus einigen Wunden des Baumes quoll; Nachmittags las er in alten Blättern, welche von Spanner- und Blattwickler-Raupen mit seltsamen Hieroglyphen beschrieben waren. Was Hirschkäfer aus entfernten Gegenden bei ihren einsamen Zügen in der Fremde den Verwandten berichtet hatten, was die Vorältern von befreundeten Familien, von Walkerkäfern aus dem Wallis, Nashornkäfern aus Norditalien, und weither kommenden Lucaniden aus den
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[123/0151] Gelbe Lichter, die Vorboten der Abendröthe spielten auf der spiegelglatten Fläche des Brienzersee’s und verloren sich in tiefblauer Unbestimmtheit am Fuße des Rothhornes. Die steilen Matten des Augstmatthornes, die Felsabstürze des Faulhornes leuchteten über das Thal von Interlaken hinaus und um den Gipfel der Schwalmeren spielten einige leichte, duftige Wölkchen. Die Schnaken und Hafte am Ufer begannen sich zum Tanze zu rüsten. Ihre Puppen krochen über das feuchte Gelände hervor und zogen Leib, Füße und Flügel aus den unbeweglichen Hornscheiden, von welchen sie vorher umschlossen waren. Schon sah man hier und da über den Gesträuchen jene auf und ab wogenden Gesellschaften leichter Eintagsfliegen, die wie unbestimmte Rauchwölkchen an den Hecken hinschwebten und im Glanze der Abendsonne vergaßen, daß ein schneller Tod ihrer kurzen Freude ein Ende machen werde. Der Hirschkäfer wartete der Dämmerung, um in Gesellschaft der Gattin seinen Abendflug machen zu können. Er lebte ehrsam und still auf dem Nußbaume, in dessen Mark er seine Jugendjahre zugebracht hatte. Morgens kletterte er auf den Zweigen umher und leckte mit seiner pinselartigen Unterlippe den Honigthau und den süßen Saft, der aus einigen Wunden des Baumes quoll; Nachmittags las er in alten Blättern, welche von Spanner- und Blattwickler-Raupen mit seltsamen Hieroglyphen beschrieben waren. Was Hirschkäfer aus entfernten Gegenden bei ihren einsamen Zügen in der Fremde den Verwandten berichtet hatten, was die Vorältern von befreundeten Familien, von Walkerkäfern aus dem Wallis, Nashornkäfern aus Norditalien, und weither kommenden Lucaniden aus den

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2012-10-29T10:30:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Universität Michigan: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-10-29T10:30:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-10-29T10:30:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Als Grundlage dienen die Wikisource:Editionsrichtlinien
  • Der Seitenwechsel erfolgt bei Worttrennung nach dem gesamten Wort.
  • Geviertstriche „—“ werden als normale Gedankenstriche „–“ wiedergegeben.
  • Die Transkription folgt im Übrigen dem Original.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vogt_thierstaaten_1851
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vogt_thierstaaten_1851/151
Zitationshilfe: Vogt, Carl: Untersuchungen über Thierstaaten. Frankfurt (Main), 1851, S. 123. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vogt_thierstaaten_1851/151>, abgerufen am 27.11.2024.