Vogt, Carl: Untersuchungen über Thierstaaten. Frankfurt (Main), 1851.Eine Hirschkäferfamilie. An einem herrlichen Sommerabende des Jahres 1849 saß eine Hirschkäferfamilie auf einem Nußbaumzweige, der über das Ufer des Brienzersee's in das milchgrüne Wasser hinabhing. Der Gatte war sich seiner kolossalen Hörner so bewußt, daß er sie sogar dazu benutzte, ein halbverwelktes Blatt dazwischen festzuhalten. Rührender Beweis für die milden Sitten und die Hochkultur der aristokratischen Käfergeschlechter! Die Proletarier unter ihnen, die Borken-, Mist- und Laufkäfer sind eifersüchtig und würden lieber untergehen, als Hörner zur Schau tragen - wie anders unsere altadeligen, feingebildeten Schröter! Neben dem Hörnerträger saß sinnig die Gattin, mit den Vorderfüßen zierlich die sanftgekrümmten scharfen Kiefer putzend, während aus einem Loche des Astes die Larve ihren citrongelben Kopf hob und von Zeit zu Zeit etwas Mulm aus der Oeffnung herauswarf. Sie hatte jetzt keinen räuberischen Ueberfall zu fürchten, wie einst zu den Zeiten der Römer, welche die Hirschkäferwürmer (Cossus) und die Engerlinge für außerordentlich schmackhaft hielten und erstere besonders auf den Tafeln der Herrschaften servirten. Die Welt schreitet vor - wir essen weder Engerlinge noch Hirschschröterwürmer - aber wir stopfen uns die knurrenden Mägen mit Eine Hirschkäferfamilie. An einem herrlichen Sommerabende des Jahres 1849 saß eine Hirschkäferfamilie auf einem Nußbaumzweige, der über das Ufer des Brienzersee’s in das milchgrüne Wasser hinabhing. Der Gatte war sich seiner kolossalen Hörner so bewußt, daß er sie sogar dazu benutzte, ein halbverwelktes Blatt dazwischen festzuhalten. Rührender Beweis für die milden Sitten und die Hochkultur der aristokratischen Käfergeschlechter! Die Proletarier unter ihnen, die Borken-, Mist- und Laufkäfer sind eifersüchtig und würden lieber untergehen, als Hörner zur Schau tragen – wie anders unsere altadeligen, feingebildeten Schröter! Neben dem Hörnerträger saß sinnig die Gattin, mit den Vorderfüßen zierlich die sanftgekrümmten scharfen Kiefer putzend, während aus einem Loche des Astes die Larve ihren citrongelben Kopf hob und von Zeit zu Zeit etwas Mulm aus der Oeffnung herauswarf. Sie hatte jetzt keinen räuberischen Ueberfall zu fürchten, wie einst zu den Zeiten der Römer, welche die Hirschkäferwürmer (Cossus) und die Engerlinge für außerordentlich schmackhaft hielten und erstere besonders auf den Tafeln der Herrschaften servirten. Die Welt schreitet vor – wir essen weder Engerlinge noch Hirschschröterwürmer – aber wir stopfen uns die knurrenden Mägen mit <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0147" n="119"/> <div n="2"> <head>Eine Hirschkäferfamilie.</head><lb/> <p><hi rendition="#in">A</hi>n einem herrlichen Sommerabende des Jahres 1849 saß eine Hirschkäferfamilie auf einem Nußbaumzweige, der über das Ufer des Brienzersee’s in das milchgrüne Wasser hinabhing. Der Gatte war sich seiner kolossalen Hörner so bewußt, daß er sie sogar dazu benutzte, ein halbverwelktes Blatt dazwischen festzuhalten. Rührender Beweis für die milden Sitten und die Hochkultur der aristokratischen Käfergeschlechter! Die Proletarier unter ihnen, die Borken-, Mist- und Laufkäfer sind eifersüchtig und würden lieber untergehen, als Hörner zur Schau tragen – wie anders unsere altadeligen, feingebildeten Schröter! Neben dem Hörnerträger saß sinnig die Gattin, mit den Vorderfüßen zierlich die sanftgekrümmten scharfen Kiefer putzend, während aus einem Loche des Astes die Larve ihren citrongelben Kopf hob und von Zeit zu Zeit etwas Mulm aus der Oeffnung herauswarf. Sie hatte jetzt keinen räuberischen Ueberfall zu fürchten, wie einst zu den Zeiten der Römer, welche die Hirschkäferwürmer (<hi rendition="#aq">Cossus</hi>) und die Engerlinge für außerordentlich schmackhaft hielten und erstere besonders auf den Tafeln der Herrschaften servirten. Die Welt schreitet vor – wir essen weder Engerlinge noch Hirschschröterwürmer – aber wir stopfen uns die knurrenden Mägen mit </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [119/0147]
Eine Hirschkäferfamilie.
An einem herrlichen Sommerabende des Jahres 1849 saß eine Hirschkäferfamilie auf einem Nußbaumzweige, der über das Ufer des Brienzersee’s in das milchgrüne Wasser hinabhing. Der Gatte war sich seiner kolossalen Hörner so bewußt, daß er sie sogar dazu benutzte, ein halbverwelktes Blatt dazwischen festzuhalten. Rührender Beweis für die milden Sitten und die Hochkultur der aristokratischen Käfergeschlechter! Die Proletarier unter ihnen, die Borken-, Mist- und Laufkäfer sind eifersüchtig und würden lieber untergehen, als Hörner zur Schau tragen – wie anders unsere altadeligen, feingebildeten Schröter! Neben dem Hörnerträger saß sinnig die Gattin, mit den Vorderfüßen zierlich die sanftgekrümmten scharfen Kiefer putzend, während aus einem Loche des Astes die Larve ihren citrongelben Kopf hob und von Zeit zu Zeit etwas Mulm aus der Oeffnung herauswarf. Sie hatte jetzt keinen räuberischen Ueberfall zu fürchten, wie einst zu den Zeiten der Römer, welche die Hirschkäferwürmer (Cossus) und die Engerlinge für außerordentlich schmackhaft hielten und erstere besonders auf den Tafeln der Herrschaften servirten. Die Welt schreitet vor – wir essen weder Engerlinge noch Hirschschröterwürmer – aber wir stopfen uns die knurrenden Mägen mit
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