Die naturwissenschaftlichen Kenntnisse des ganzen Alterthums, so wie eines großen Theiles des Mittelalters finden in dem einzigen großen Naturforscher Griechenlands, in Aristoteles, ihren gemeinsamen Sammelpunkt. Der Vater der Naturgeschichte faßte Alles zusammen, was von früher erbeuteten Kenntnissen ihm vorlag, fügte einen unge- meinen Reichthum höchst genauer und oft erst in der spätern Zeit be- stätigter Beobachtungen hinzu und wurde für die Scholastiker des Mittelalters sowohl, wie für die geistlosen, alles wissenschaftlichen Sin- nes entbehrenden Römer, gleichsam der Codex, zu welchem die Glossen- fabrikanten jener trostlosen Perioden Erläuterungen und Anmerkungen fertigten. Aristoteles trug zuerst das Scalpell in den Körper der Thiere; er untersuchte ihren Bau und faßte sie zuweilen nach gewissen Aehnlichkeiten zusammen, die meistens von der innern Organisation hergenommen sind. Einen großen Werth legte Aristoteles auf die Er- zeugungs- und Fortpflanzungsweise der Thiere und gar manche cha- rakteristische Eigenthümlichkeiten, die er in dieser Hinsicht besonders von Seethieren anführt, erhielten erst in der neuesten Zeit ihre voll- kommene Bestätigung. Die Beschreibung der äußeren Charaktere bleibt ihm nur Nebensache; er bedient sich der allgemein angenommenen Na- men in der Voraussetzung, daß dieselben allgemein verständlich seien und fügt nur dann einige hervorstechende Merkmale kurz an, wenn er Mißverständnisse vermeiden oder größere Gruppen bezeichnen will. Die große und einfache Naturanschauung der Griechen weht durch dieses Werk, ein Erzeugniß außerordentlichen Fleißes und jahrelanger Anstrengungen. Keine läppischen Untersuchungen über den Zweck, welchen ein fingirter Schöpfer mit diesem oder jenem Thiere oder gar Thier- theile habe erreichen wollen, sondern eine einfache, nüchterne Darstellung der Thatsachen und der aus ihnen hervorgehenden Schlüsse. Aber auch kein systematisch trockenes Gebäude, in welches die Beobachtungen oft mit Zwang und indem man ihnen Gewalt anthut, eingereiht werden; son-
Erſter Brief. Frühere und jetzige Beſtrebungen.
Die naturwiſſenſchaftlichen Kenntniſſe des ganzen Alterthums, ſo wie eines großen Theiles des Mittelalters finden in dem einzigen großen Naturforſcher Griechenlands, in Ariſtoteles, ihren gemeinſamen Sammelpunkt. Der Vater der Naturgeſchichte faßte Alles zuſammen, was von früher erbeuteten Kenntniſſen ihm vorlag, fügte einen unge- meinen Reichthum höchſt genauer und oft erſt in der ſpätern Zeit be- ſtätigter Beobachtungen hinzu und wurde für die Scholaſtiker des Mittelalters ſowohl, wie für die geiſtloſen, alles wiſſenſchaftlichen Sin- nes entbehrenden Römer, gleichſam der Codex, zu welchem die Gloſſen- fabrikanten jener troſtloſen Perioden Erläuterungen und Anmerkungen fertigten. Ariſtoteles trug zuerſt das Scalpell in den Körper der Thiere; er unterſuchte ihren Bau und faßte ſie zuweilen nach gewiſſen Aehnlichkeiten zuſammen, die meiſtens von der innern Organiſation hergenommen ſind. Einen großen Werth legte Ariſtoteles auf die Er- zeugungs- und Fortpflanzungsweiſe der Thiere und gar manche cha- rakteriſtiſche Eigenthümlichkeiten, die er in dieſer Hinſicht beſonders von Seethieren anführt, erhielten erſt in der neueſten Zeit ihre voll- kommene Beſtätigung. Die Beſchreibung der äußeren Charaktere bleibt ihm nur Nebenſache; er bedient ſich der allgemein angenommenen Na- men in der Vorausſetzung, daß dieſelben allgemein verſtändlich ſeien und fügt nur dann einige hervorſtechende Merkmale kurz an, wenn er Mißverſtändniſſe vermeiden oder größere Gruppen bezeichnen will. Die große und einfache Naturanſchauung der Griechen weht durch dieſes Werk, ein Erzeugniß außerordentlichen Fleißes und jahrelanger Anſtrengungen. Keine läppiſchen Unterſuchungen über den Zweck, welchen ein fingirter Schöpfer mit dieſem oder jenem Thiere oder gar Thier- theile habe erreichen wollen, ſondern eine einfache, nüchterne Darſtellung der Thatſachen und der aus ihnen hervorgehenden Schlüſſe. Aber auch kein ſyſtematiſch trockenes Gebäude, in welches die Beobachtungen oft mit Zwang und indem man ihnen Gewalt anthut, eingereiht werden; ſon-
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Erſter Brief.
Frühere und jetzige Beſtrebungen.
Die naturwiſſenſchaftlichen Kenntniſſe des ganzen Alterthums, ſo
wie eines großen Theiles des Mittelalters finden in dem einzigen großen
Naturforſcher Griechenlands, in Ariſtoteles, ihren gemeinſamen
Sammelpunkt. Der Vater der Naturgeſchichte faßte Alles zuſammen,
was von früher erbeuteten Kenntniſſen ihm vorlag, fügte einen unge-
meinen Reichthum höchſt genauer und oft erſt in der ſpätern Zeit be-
ſtätigter Beobachtungen hinzu und wurde für die Scholaſtiker des
Mittelalters ſowohl, wie für die geiſtloſen, alles wiſſenſchaftlichen Sin-
nes entbehrenden Römer, gleichſam der Codex, zu welchem die Gloſſen-
fabrikanten jener troſtloſen Perioden Erläuterungen und Anmerkungen
fertigten. Ariſtoteles trug zuerſt das Scalpell in den Körper der
Thiere; er unterſuchte ihren Bau und faßte ſie zuweilen nach gewiſſen
Aehnlichkeiten zuſammen, die meiſtens von der innern Organiſation
hergenommen ſind. Einen großen Werth legte Ariſtoteles auf die Er-
zeugungs- und Fortpflanzungsweiſe der Thiere und gar manche cha-
rakteriſtiſche Eigenthümlichkeiten, die er in dieſer Hinſicht beſonders
von Seethieren anführt, erhielten erſt in der neueſten Zeit ihre voll-
kommene Beſtätigung. Die Beſchreibung der äußeren Charaktere bleibt
ihm nur Nebenſache; er bedient ſich der allgemein angenommenen Na-
men in der Vorausſetzung, daß dieſelben allgemein verſtändlich ſeien
und fügt nur dann einige hervorſtechende Merkmale kurz an, wenn
er Mißverſtändniſſe vermeiden oder größere Gruppen bezeichnen will.
Die große und einfache Naturanſchauung der Griechen weht durch
dieſes Werk, ein Erzeugniß außerordentlichen Fleißes und jahrelanger
Anſtrengungen. Keine läppiſchen Unterſuchungen über den Zweck,
welchen ein fingirter Schöpfer mit dieſem oder jenem Thiere oder gar Thier-
theile habe erreichen wollen, ſondern eine einfache, nüchterne Darſtellung
der Thatſachen und der aus ihnen hervorgehenden Schlüſſe. Aber auch
kein ſyſtematiſch trockenes Gebäude, in welches die Beobachtungen oft mit
Zwang und indem man ihnen Gewalt anthut, eingereiht werden; ſon-
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Vogt, Carl: Zoologische Briefe. Bd. 1. Frankfurt (Main), 1851, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vogt_briefe01_1851/15>, abgerufen am 04.12.2024.
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