Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
pvi_1234.001 2. Die Onomatopoesie verhält sich zu dem allgemeinen, stetigen Einklang pvi_1234.022 Und wenn der Sturm im Walde braust und knarrt, pvi_1234.031 Die Riesenfichte stürzend Nachbaräste pvi_1234.032 Und Nachbarstämme quetschend niederstreift pvi_1234.033 Und ihrem Fall dumpf hohl der Hügel donnert u. s. w. §. 854. pvi_1234.035Der große Gegensatz der Style macht im sprachlichen Ausdruck seine ganze pvi_1234.036
pvi_1234.001 2. Die Onomatopoesie verhält sich zu dem allgemeinen, stetigen Einklang pvi_1234.022 Und wenn der Sturm im Walde braust und knarrt, pvi_1234.031 Die Riesenfichte stürzend Nachbaräste pvi_1234.032 Und Nachbarstämme quetschend niederstreift pvi_1234.033 Und ihrem Fall dumpf hohl der Hügel donnert u. s. w. §. 854. pvi_1234.035Der große Gegensatz der Style macht im sprachlichen Ausdruck seine ganze pvi_1234.036 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0096" n="1234"/><lb n="pvi_1234.001"/> Asyndeton und Polysyndeton z. B. drücken deutlich verschiedenen Stimmungsrhythmus <lb n="pvi_1234.002"/> aus und umgekehrt kann von Klimax und Antiklimax in der Lehre <lb n="pvi_1234.003"/> von der Poesie nur insofern ausdrücklich die Rede sein, als sich Steigerung <lb n="pvi_1234.004"/> und Senkung in der Sprachform niederlegt. <hi rendition="#g">Reine</hi> Wort- oder Formfiguren <lb n="pvi_1234.005"/> sind nur bestimmte grammatikalische Unregelmäßigkeiten, wie Synkope, <lb n="pvi_1234.006"/> Apokope, Zeugma u. s. w., über die weiter nichts zu sagen ist, als <lb n="pvi_1234.007"/> daß sie in der Poesie häufiger vorkommen werden, als in der Prosa, weil dieselbe <lb n="pvi_1234.008"/> auch an dem rein technischen Sprachgesetz ihre Freiheit geltend zu machen <lb n="pvi_1234.009"/> liebt. – Zu dieser zweiten Ordnung mag, wenn man sie außer ihrem Zusammenhang <lb n="pvi_1234.010"/> im komischen Prozesse betrachtet (vergl. §. 201 ff.), auch die <lb n="pvi_1234.011"/> Jronie (mit der Litotes) als Figur gezählt werden, denn man kann sie als <lb n="pvi_1234.012"/> eine Rückhaltung des Sprachflusses auffassen, der sich wie hinter einer <lb n="pvi_1234.013"/> Schleuse spannt, um errathen zu lassen, daß das Verborgene das Gegentheil <lb n="pvi_1234.014"/> des Sichtbaren ist. – Bei der dritten Ordnung handelt es sich von <lb n="pvi_1234.015"/> den punctuellen Accenten, welche sich auf den einzelnen Moment der Rede <lb n="pvi_1234.016"/> werfen; hieher gehört die Betonung durch Contrast, wie sie in der Sprachform <lb n="pvi_1234.017"/> als Jnversion, Anaklase, Epanodos, Antithese erscheint. Die letztere <lb n="pvi_1234.018"/> bedeutet hier einen Widerspruch zwischen Subject und Epitheton (z. B. der <lb n="pvi_1234.019"/> arme Reiche), eine sehr wirksame, aber auch leicht zu mißbrauchende Form, <lb n="pvi_1234.020"/> wie sie denn in der Marinischen Jagd nach <hi rendition="#aq">concetti</hi> einst besonders beliebt war.</hi> </p> <lb n="pvi_1234.021"/> <p> <hi rendition="#et"> 2. Die Onomatopoesie verhält sich zu dem allgemeinen, stetigen Einklang <lb n="pvi_1234.022"/> zwischen Tonfall und Jnhalt, der in aller ächten Dichtung mit innerer <lb n="pvi_1234.023"/> Nothwendigkeit herrscht, wie ein vereinzeltes, besonderes Spiel, den nachahmenden <lb n="pvi_1234.024"/> Tonspielereien der Musik ähnlich und wie diese nur sparsam <lb n="pvi_1234.025"/> anzuwenden. Der sausende Diskus des Odysseus und der rückwärts zu Thal <lb n="pvi_1234.026"/> polternde Stein des Sisyphus sind berühmte Beispiele aus Homer; nicht <lb n="pvi_1234.027"/> leicht ein schöneres, ungesuchteres bietet die moderne Literatur, als die <lb n="pvi_1234.028"/> herrliche Stelle in Göthe's Faust, wo die Folge der Consonanten und <lb n="pvi_1234.029"/> Vocale genau zu beobachten ist:</hi> </p> <lb n="pvi_1234.030"/> <lg> <l>Und wenn der Sturm im Walde braust und knarrt,</l> <lb n="pvi_1234.031"/> <l>Die Riesenfichte stürzend Nachbaräste</l> <lb n="pvi_1234.032"/> <l>Und Nachbarstämme quetschend niederstreift</l> <lb n="pvi_1234.033"/> <l>Und ihrem Fall dumpf hohl der Hügel donnert u. s. w.</l> </lg> </div> <lb n="pvi_1234.034"/> <div n="4"> <p> <hi rendition="#c">§. 854.</hi> </p> <lb n="pvi_1234.035"/> <p> Der große Gegensatz der <hi rendition="#g">Style</hi> macht im sprachlichen Ausdruck seine ganze <lb n="pvi_1234.036"/> Stärke geltend. Der naturalistische und individualisirende Styl zeichnet durchaus <lb n="pvi_1234.037"/> enger in's Einzelne, greift daher kühner in das Niedrige und Platte, zugleich <lb n="pvi_1234.038"/> aber bricht das tiefere Geistesleben, das ihn hiezu berechtigt, unruhiger, aufgeregter, <lb n="pvi_1234.039"/> traumartiger in Bildern und Figuren hervor.</p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1234/0096]
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Asyndeton und Polysyndeton z. B. drücken deutlich verschiedenen Stimmungsrhythmus pvi_1234.002
aus und umgekehrt kann von Klimax und Antiklimax in der Lehre pvi_1234.003
von der Poesie nur insofern ausdrücklich die Rede sein, als sich Steigerung pvi_1234.004
und Senkung in der Sprachform niederlegt. Reine Wort- oder Formfiguren pvi_1234.005
sind nur bestimmte grammatikalische Unregelmäßigkeiten, wie Synkope, pvi_1234.006
Apokope, Zeugma u. s. w., über die weiter nichts zu sagen ist, als pvi_1234.007
daß sie in der Poesie häufiger vorkommen werden, als in der Prosa, weil dieselbe pvi_1234.008
auch an dem rein technischen Sprachgesetz ihre Freiheit geltend zu machen pvi_1234.009
liebt. – Zu dieser zweiten Ordnung mag, wenn man sie außer ihrem Zusammenhang pvi_1234.010
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Jronie (mit der Litotes) als Figur gezählt werden, denn man kann sie als pvi_1234.012
eine Rückhaltung des Sprachflusses auffassen, der sich wie hinter einer pvi_1234.013
Schleuse spannt, um errathen zu lassen, daß das Verborgene das Gegentheil pvi_1234.014
des Sichtbaren ist. – Bei der dritten Ordnung handelt es sich von pvi_1234.015
den punctuellen Accenten, welche sich auf den einzelnen Moment der Rede pvi_1234.016
werfen; hieher gehört die Betonung durch Contrast, wie sie in der Sprachform pvi_1234.017
als Jnversion, Anaklase, Epanodos, Antithese erscheint. Die letztere pvi_1234.018
bedeutet hier einen Widerspruch zwischen Subject und Epitheton (z. B. der pvi_1234.019
arme Reiche), eine sehr wirksame, aber auch leicht zu mißbrauchende Form, pvi_1234.020
wie sie denn in der Marinischen Jagd nach concetti einst besonders beliebt war.
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2. Die Onomatopoesie verhält sich zu dem allgemeinen, stetigen Einklang pvi_1234.022
zwischen Tonfall und Jnhalt, der in aller ächten Dichtung mit innerer pvi_1234.023
Nothwendigkeit herrscht, wie ein vereinzeltes, besonderes Spiel, den nachahmenden pvi_1234.024
Tonspielereien der Musik ähnlich und wie diese nur sparsam pvi_1234.025
anzuwenden. Der sausende Diskus des Odysseus und der rückwärts zu Thal pvi_1234.026
polternde Stein des Sisyphus sind berühmte Beispiele aus Homer; nicht pvi_1234.027
leicht ein schöneres, ungesuchteres bietet die moderne Literatur, als die pvi_1234.028
herrliche Stelle in Göthe's Faust, wo die Folge der Consonanten und pvi_1234.029
Vocale genau zu beobachten ist:
pvi_1234.030
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Die Riesenfichte stürzend Nachbaräste pvi_1234.032
Und Nachbarstämme quetschend niederstreift pvi_1234.033
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Der große Gegensatz der Style macht im sprachlichen Ausdruck seine ganze pvi_1234.036
Stärke geltend. Der naturalistische und individualisirende Styl zeichnet durchaus pvi_1234.037
enger in's Einzelne, greift daher kühner in das Niedrige und Platte, zugleich pvi_1234.038
aber bricht das tiefere Geistesleben, das ihn hiezu berechtigt, unruhiger, aufgeregter, pvi_1234.039
traumartiger in Bildern und Figuren hervor.
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