Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
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pvi_1231.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0093" n="1231"/><lb n="pvi_1231.001"/> mit der ersten zuläßt, oder wenn mit fühlbarer Absichtlichkeit ein <lb n="pvi_1231.002"/> Bild ausgesponnen und doch nur scheinbar festgehalten wird, wobei gewöhnlich <lb n="pvi_1231.003"/> Verwechslungen der verglichenen Seite des Subjects mit andern <lb n="pvi_1231.004"/> Seiten desselben sich einschleichen (vergl. J. Paul Vorsch. d. Aesth. §. 51 <lb n="pvi_1231.005"/> das Beispiel aus Lessing), oder endlich, wenn eine üppige Phantasie keine <lb n="pvi_1231.006"/> Grenze mehr achtet und mit Kühnheiten, die bei richtigerem Maaß erlaubt <lb n="pvi_1231.007"/> wären, gar zu freigebig ist, wie die romantische mit ihren ewigen klingenden <lb n="pvi_1231.008"/> Farben, duftenden Tönen, singenden Blumen u. s. w. An und für <lb n="pvi_1231.009"/> sich ist es nichts weniger, als unnatürlich, wenn die Verwandtschaft, worin <lb n="pvi_1231.010"/> die bereits als Bild dienende Erscheinung mit andern steht, die Phantasie <lb n="pvi_1231.011"/> anzieht, von jener zu diesen weiter zu gehen, um den verglichenen Punct <lb n="pvi_1231.012"/> immer voller, kräftiger zu beleuchten und allerdings auch, um neue Puncte <lb n="pvi_1231.013"/> oder Seiten des Gegenstands, sofern es nur mit heller poetischer Einsicht <lb n="pvi_1231.014"/> geschieht, in die Vergleichung einzuführen. So ist z. B. ein Feuerregen ein <lb n="pvi_1231.015"/> gewöhnlicher Ausdruck; wenn nun ein Affect wegen seiner verzehrenden Gewalt <lb n="pvi_1231.016"/> mit Feuer verglichen wird, so bezeichnet der Regen die Fülle, die gehäuften <lb n="pvi_1231.017"/> Schläge seiner Aeußerung und ein Feuerregen zorniger Worte ist ein durchaus <lb n="pvi_1231.018"/> natürliches Bild. Der Dichter kann auch im Bilde bleiben, eine andere <lb n="pvi_1231.019"/> Seite desselben hervorheben und auf eine andere Seite des Verglichenen <lb n="pvi_1231.020"/> anwenden wie in den schönen Worten des Orestes: die Erinnyen blasen <lb n="pvi_1231.021"/> mir schadenfroh die Asche von der Seele und leiden nicht, daß sich die letzten <lb n="pvi_1231.022"/> Kohlen von unsers Hauses Schreckensbrande still in mir verglimmen. Mit <lb n="pvi_1231.023"/> dem Worte „letzten“ wird hier das Leiden in Orestes Seele in den Begriff <lb n="pvi_1231.024"/> des allgemeinen Unglücks seines Hauses, das mit ihm endigen sollte, umgewendet. <lb n="pvi_1231.025"/> Die Grenzlinie, hinter welcher für die Uebergänge aus einem <lb n="pvi_1231.026"/> Bild in das andere, aber freilich auch für das einfache Fortführen eines <lb n="pvi_1231.027"/> Bildes das Abgeschmackte beginnt, ist freilich zart und läßt sich darüber im <lb n="pvi_1231.028"/> Allgemeinen nichts bestimmen, als daß der Act des Vergleichens in seinem <lb n="pvi_1231.029"/> Wesen immer ein einfacher Wurf der Phantasie bleiben muß, nie in ein <lb n="pvi_1231.030"/> Festrennen und Zerren übergehen darf, denn dieß fordert den Verstand heraus, <lb n="pvi_1231.031"/> der den Schein höhnisch aufhebt. Shakespeare hat bekanntlich in seiner <lb n="pvi_1231.032"/> jugendlichen Periode jenem abgeschmackten Mode-Tone seiner Zeit, den man <lb n="pvi_1231.033"/> Euphuismus nannte, nicht geringen Zoll gezahlt; doch ist nicht zu übersehen, <lb n="pvi_1231.034"/> daß manche besonders seltsame Bilder, die in dieß Gebiet gehören, <lb n="pvi_1231.035"/> mit dem offenbaren Bewußtsein überkühner Hyperbeln gebraucht sind, die <lb n="pvi_1231.036"/> einen besonders tiefen und starken Affect bezeichnen sollen. So haben dieselben <lb n="pvi_1231.037"/> in ihrer Absurdität doch einen eigenthümlich starken Hauch von <lb n="pvi_1231.038"/> Stimmung, wie wenn Richard <hi rendition="#aq">II</hi> sagt: macht zu Papier den Staub und <lb n="pvi_1231.039"/> auf den Busen der Erde schreib' ein regnicht Auge Jammer. Wie dieser <lb n="pvi_1231.040"/> unglückliche Fürst so in seinem Schmerze wühlt, brütet er (– der Bilderwechsel <lb n="pvi_1231.041"/> in diesen Worten sei auch erlaubt –) ein andermal die Hyperbel </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1231/0093]
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mit der ersten zuläßt, oder wenn mit fühlbarer Absichtlichkeit ein pvi_1231.002
Bild ausgesponnen und doch nur scheinbar festgehalten wird, wobei gewöhnlich pvi_1231.003
Verwechslungen der verglichenen Seite des Subjects mit andern pvi_1231.004
Seiten desselben sich einschleichen (vergl. J. Paul Vorsch. d. Aesth. §. 51 pvi_1231.005
das Beispiel aus Lessing), oder endlich, wenn eine üppige Phantasie keine pvi_1231.006
Grenze mehr achtet und mit Kühnheiten, die bei richtigerem Maaß erlaubt pvi_1231.007
wären, gar zu freigebig ist, wie die romantische mit ihren ewigen klingenden pvi_1231.008
Farben, duftenden Tönen, singenden Blumen u. s. w. An und für pvi_1231.009
sich ist es nichts weniger, als unnatürlich, wenn die Verwandtschaft, worin pvi_1231.010
die bereits als Bild dienende Erscheinung mit andern steht, die Phantasie pvi_1231.011
anzieht, von jener zu diesen weiter zu gehen, um den verglichenen Punct pvi_1231.012
immer voller, kräftiger zu beleuchten und allerdings auch, um neue Puncte pvi_1231.013
oder Seiten des Gegenstands, sofern es nur mit heller poetischer Einsicht pvi_1231.014
geschieht, in die Vergleichung einzuführen. So ist z. B. ein Feuerregen ein pvi_1231.015
gewöhnlicher Ausdruck; wenn nun ein Affect wegen seiner verzehrenden Gewalt pvi_1231.016
mit Feuer verglichen wird, so bezeichnet der Regen die Fülle, die gehäuften pvi_1231.017
Schläge seiner Aeußerung und ein Feuerregen zorniger Worte ist ein durchaus pvi_1231.018
natürliches Bild. Der Dichter kann auch im Bilde bleiben, eine andere pvi_1231.019
Seite desselben hervorheben und auf eine andere Seite des Verglichenen pvi_1231.020
anwenden wie in den schönen Worten des Orestes: die Erinnyen blasen pvi_1231.021
mir schadenfroh die Asche von der Seele und leiden nicht, daß sich die letzten pvi_1231.022
Kohlen von unsers Hauses Schreckensbrande still in mir verglimmen. Mit pvi_1231.023
dem Worte „letzten“ wird hier das Leiden in Orestes Seele in den Begriff pvi_1231.024
des allgemeinen Unglücks seines Hauses, das mit ihm endigen sollte, umgewendet. pvi_1231.025
Die Grenzlinie, hinter welcher für die Uebergänge aus einem pvi_1231.026
Bild in das andere, aber freilich auch für das einfache Fortführen eines pvi_1231.027
Bildes das Abgeschmackte beginnt, ist freilich zart und läßt sich darüber im pvi_1231.028
Allgemeinen nichts bestimmen, als daß der Act des Vergleichens in seinem pvi_1231.029
Wesen immer ein einfacher Wurf der Phantasie bleiben muß, nie in ein pvi_1231.030
Festrennen und Zerren übergehen darf, denn dieß fordert den Verstand heraus, pvi_1231.031
der den Schein höhnisch aufhebt. Shakespeare hat bekanntlich in seiner pvi_1231.032
jugendlichen Periode jenem abgeschmackten Mode-Tone seiner Zeit, den man pvi_1231.033
Euphuismus nannte, nicht geringen Zoll gezahlt; doch ist nicht zu übersehen, pvi_1231.034
daß manche besonders seltsame Bilder, die in dieß Gebiet gehören, pvi_1231.035
mit dem offenbaren Bewußtsein überkühner Hyperbeln gebraucht sind, die pvi_1231.036
einen besonders tiefen und starken Affect bezeichnen sollen. So haben dieselben pvi_1231.037
in ihrer Absurdität doch einen eigenthümlich starken Hauch von pvi_1231.038
Stimmung, wie wenn Richard II sagt: macht zu Papier den Staub und pvi_1231.039
auf den Busen der Erde schreib' ein regnicht Auge Jammer. Wie dieser pvi_1231.040
unglückliche Fürst so in seinem Schmerze wühlt, brütet er (– der Bilderwechsel pvi_1231.041
in diesen Worten sei auch erlaubt –) ein andermal die Hyperbel
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