Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
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pvi_1222.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0084" n="1222"/><lb n="pvi_1222.001"/> Liedes: „Kennst du das Land,“ wir vernehmen kaum mehr das Rauschen <lb n="pvi_1222.002"/> des Haines, dessen Wipfel Jphigenie nicht etwa gewaltig, erhaben u. dgl., <lb n="pvi_1222.003"/> sondern <hi rendition="#g">reg</hi> nennt, oder die geisterhaft herbstliche Stimmung in den Worten <lb n="pvi_1222.004"/> des Mephistopheles: wie traurig steigt die unvollkommene Scheibe des <lb n="pvi_1222.005"/> rothen Monds mit später Gluth heran, wir unterscheiden kaum, wie viel <lb n="pvi_1222.006"/> poetischer Wallenstein von <hi rendition="#g">hohlen,</hi> als von leeren Lägern spricht. Gerade <lb n="pvi_1222.007"/> unsere sinnlich starken Bezeichnungen sind durch die Verschwendung, indem <lb n="pvi_1222.008"/> man nicht mehr nach dem passenden Orte fragt, allgemein, abstract geworden. <lb n="pvi_1222.009"/> Wie matt muß dem, der an lauter spanischen Pfeffer gewöhnt ist, es <lb n="pvi_1222.010"/> erscheinen, wenn Göthe seinen Hermann nur wohlgebildet, den Vater den <lb n="pvi_1222.011"/> menschlichen Hauswirth, die Mutter die zuverläßige Gattin nennt! Die <lb n="pvi_1222.012"/> letzteren zwei Prädicate sind nicht versinnlichend, sondern moralisch; der <lb n="pvi_1222.013"/> Dichter hat ja überhaupt ebensosehr zu vergeistigen und zu verallgemeinern, <lb n="pvi_1222.014"/> als zu individualisiren; dieß Verfahren verfolgen wir hier im Allgemeinen <lb n="pvi_1222.015"/> nicht, eine besondere Wendung desselben aber wird zur Sprache kommen. – <anchor xml:id="vi007"/> <lb n="pvi_1222.016"/> Es gilt nun aber auch natürlich vom Epitheton, daß durch die allgemeine <lb n="pvi_1222.017"/> Vorschrift der Sparsamkeit das Häufen der Mittel im Moment ergiebig <lb n="pvi_1222.018"/> hervorquellender Stimmung keineswegs ausgeschlossen ist; unsere Phantasie <lb n="pvi_1222.019"/> kann recht wohl die successiven Prädicate in ein simultanes Ganzes zusammenfassen; <lb n="pvi_1222.020"/> Jphigenie geht gleich im zweiten Vers in die warm beschleunigte <lb n="pvi_1222.021"/> Prädicat-Häufung: des alten, heil'gen, dichtbelaubten Haines über und <lb n="pvi_1222.022"/> Beispiele noch viel reicherer Fülle sind in der ächten Poesie unendlich. – <lb n="pvi_1222.023"/> Die Versinnlichung legt sich nun aber natürlich auch in die Bezeichnung <lb n="pvi_1222.024"/> des Zustands oder Thuns durch das <hi rendition="#g">Zeitwort.</hi> Hier ist immer die <lb n="pvi_1222.025"/> nähere, schärfere, sinnlichere Beziehung der allgemeineren vorzuziehen. Es <lb n="pvi_1222.026"/> ist poetischer, zu sagen: der Schmerz wühlt, gräbt, nagt, bohrt im Jnnern, <lb n="pvi_1222.027"/> als: er bewegt, erfüllt es u. s. w. <anchor xml:id="vi008"/> <note targetEnd="vi008" type="metapher" ana="#m1-0-1-2 #m1-9-1 #m1-11-2" target="vi007"/> <anchor xml:id="vi009"/> Es tritt hiemit, wie in diesem Beispiel, <lb n="pvi_1222.028"/> meist schon metaphorische Bezeichnung ein und führt dieß daher zu der Betrachtung <lb n="pvi_1222.029"/> des bildlichen Verfahrens im engeren Sinne des Worts; davon <lb n="pvi_1222.030"/> soll erst nachher spezieller die Rede sein, aber es ist unumgänglich, schon bei <lb n="pvi_1222.031"/> dem Epitheton es zu erwähnen <anchor xml:id="vi010"/> <note targetEnd="vi010" type="metapher" ana="#m1-0-1-1 #m1-8-1-0 #m1-9-1" target="vi009"> Epitheton ornans als Parallelkategorie </note> , ebenso das metonymische Verfahren, wo der <lb n="pvi_1222.032"/> Dichter statt der ganzen Thätigkeit eine nähere Erscheinungsseite derselben herausstellt; <lb n="pvi_1222.033"/> wir führen hiezu nicht im Scherz als ächt harmonisch gefühlt an, wenn <lb n="pvi_1222.034"/> Hebel, wo er den Wohlstand eines Landgeistlichen schildert und unter Anderem <lb n="pvi_1222.035"/> seine Schweinezucht erwähnt, nicht etwa sagt: in den Wäldern mästet <lb n="pvi_1222.036"/> sich, sondern: knarvelt d'Su. <anchor xml:id="vi011"/> Das Verbum kann allerdings auch umgekehrt <lb n="pvi_1222.037"/> die Enge des Sinnlichen vergeistigend erweitern, dieß führt jedoch <lb n="pvi_1222.038"/> ebenfalls zur Metapher. <anchor xml:id="vi012"/> <note targetEnd="vi012" type="metapher" ana="#m1-0-1-1 #m1-8-1-3 #m1-9-1" target="vi011"/> – Bei genauerer Analyse wäre nun zu zeigen, <lb n="pvi_1222.039"/> wie die veranschaulichende Kraft den Satz entwickelt, mit Zwischensätzen <lb n="pvi_1222.040"/> gliedert (z. B. in Hermann und Dorothea, wo der Pfarrer dem Vater den <lb n="pvi_1222.041"/> Ring vom Finger zieht und in Parenthese steht: nicht so leicht, denn er </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1222/0084]
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Liedes: „Kennst du das Land,“ wir vernehmen kaum mehr das Rauschen pvi_1222.002
des Haines, dessen Wipfel Jphigenie nicht etwa gewaltig, erhaben u. dgl., pvi_1222.003
sondern reg nennt, oder die geisterhaft herbstliche Stimmung in den Worten pvi_1222.004
des Mephistopheles: wie traurig steigt die unvollkommene Scheibe des pvi_1222.005
rothen Monds mit später Gluth heran, wir unterscheiden kaum, wie viel pvi_1222.006
poetischer Wallenstein von hohlen, als von leeren Lägern spricht. Gerade pvi_1222.007
unsere sinnlich starken Bezeichnungen sind durch die Verschwendung, indem pvi_1222.008
man nicht mehr nach dem passenden Orte fragt, allgemein, abstract geworden. pvi_1222.009
Wie matt muß dem, der an lauter spanischen Pfeffer gewöhnt ist, es pvi_1222.010
erscheinen, wenn Göthe seinen Hermann nur wohlgebildet, den Vater den pvi_1222.011
menschlichen Hauswirth, die Mutter die zuverläßige Gattin nennt! Die pvi_1222.012
letzteren zwei Prädicate sind nicht versinnlichend, sondern moralisch; der pvi_1222.013
Dichter hat ja überhaupt ebensosehr zu vergeistigen und zu verallgemeinern, pvi_1222.014
als zu individualisiren; dieß Verfahren verfolgen wir hier im Allgemeinen pvi_1222.015
nicht, eine besondere Wendung desselben aber wird zur Sprache kommen. – pvi_1222.016
Es gilt nun aber auch natürlich vom Epitheton, daß durch die allgemeine pvi_1222.017
Vorschrift der Sparsamkeit das Häufen der Mittel im Moment ergiebig pvi_1222.018
hervorquellender Stimmung keineswegs ausgeschlossen ist; unsere Phantasie pvi_1222.019
kann recht wohl die successiven Prädicate in ein simultanes Ganzes zusammenfassen; pvi_1222.020
Jphigenie geht gleich im zweiten Vers in die warm beschleunigte pvi_1222.021
Prädicat-Häufung: des alten, heil'gen, dichtbelaubten Haines über und pvi_1222.022
Beispiele noch viel reicherer Fülle sind in der ächten Poesie unendlich. – pvi_1222.023
Die Versinnlichung legt sich nun aber natürlich auch in die Bezeichnung pvi_1222.024
des Zustands oder Thuns durch das Zeitwort. Hier ist immer die pvi_1222.025
nähere, schärfere, sinnlichere Beziehung der allgemeineren vorzuziehen. Es pvi_1222.026
ist poetischer, zu sagen: der Schmerz wühlt, gräbt, nagt, bohrt im Jnnern, pvi_1222.027
als: er bewegt, erfüllt es u. s. w. Es tritt hiemit, wie in diesem Beispiel, pvi_1222.028
meist schon metaphorische Bezeichnung ein und führt dieß daher zu der Betrachtung pvi_1222.029
des bildlichen Verfahrens im engeren Sinne des Worts; davon pvi_1222.030
soll erst nachher spezieller die Rede sein, aber es ist unumgänglich, schon bei pvi_1222.031
dem Epitheton es zu erwähnen Epitheton ornans als Parallelkategorie , ebenso das metonymische Verfahren, wo der pvi_1222.032
Dichter statt der ganzen Thätigkeit eine nähere Erscheinungsseite derselben herausstellt; pvi_1222.033
wir führen hiezu nicht im Scherz als ächt harmonisch gefühlt an, wenn pvi_1222.034
Hebel, wo er den Wohlstand eines Landgeistlichen schildert und unter Anderem pvi_1222.035
seine Schweinezucht erwähnt, nicht etwa sagt: in den Wäldern mästet pvi_1222.036
sich, sondern: knarvelt d'Su. Das Verbum kann allerdings auch umgekehrt pvi_1222.037
die Enge des Sinnlichen vergeistigend erweitern, dieß führt jedoch pvi_1222.038
ebenfalls zur Metapher. – Bei genauerer Analyse wäre nun zu zeigen, pvi_1222.039
wie die veranschaulichende Kraft den Satz entwickelt, mit Zwischensätzen pvi_1222.040
gliedert (z. B. in Hermann und Dorothea, wo der Pfarrer dem Vater den pvi_1222.041
Ring vom Finger zieht und in Parenthese steht: nicht so leicht, denn er
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