Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
pvi_1209.001 Nach dieser Auseinandersetzung wären nun die verschiedenen Arten des pvi_1209.011
pvi_1209.001 Nach dieser Auseinandersetzung wären nun die verschiedenen Arten des pvi_1209.011 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0071" n="1209"/><lb n="pvi_1209.001"/> verfahren hat, die der poetischen Composition verwandt ist. Jn dieser <lb n="pvi_1209.002"/> Beziehung vorzüglich spricht man von historischem Kunstwerk. Allein das <lb n="pvi_1209.003"/> leitende Prinzip bleibt auch hierin für den Geschichtschreiber, daß die sächliche <lb n="pvi_1209.004"/> Wahrheit in volles und reines Licht trete. Würde z. B. eine Thatsache <lb n="pvi_1209.005"/> oder eine Reihe von Thatsachen noch so dunkle Schatten auf die <lb n="pvi_1209.006"/> Jdee einer ewigen Gerechtigkeit werfen, die sich nur anderswo, in andern <lb n="pvi_1209.007"/> Geschichtswerken über den weitern Verlauf der Begebenheiten wieder ausgliechen, <lb n="pvi_1209.008"/> der Historiker dürfte sie der künstlerischen Anordnung zu liebe <lb n="pvi_1209.009"/> natürlich nicht unterdrücken.</hi> </p> <lb n="pvi_1209.010"/> <p> <hi rendition="#et"> Nach dieser Auseinandersetzung wären nun die verschiedenen Arten des <lb n="pvi_1209.011"/> Uebertritts aus der ächten Poesie in die Prosa zu beleuchten. Wir beschränken <lb n="pvi_1209.012"/> uns aber hier auf wenige Bemerkungen, weil die Sache an <lb n="pvi_1209.013"/> andern Orten zur Sprache kommen muß, nämlich theils in der Darstellung <lb n="pvi_1209.014"/> der Zweige der Poesie, theils im Anhang (vergl. §. 547). Ohne Vorgriff <lb n="pvi_1209.015"/> in die Zweige sind allerdings auch diese Bemerkungen nicht möglich. – <lb n="pvi_1209.016"/> Das Vortragen allgemeiner (wissenschaftlicher, ethischer, politischer) oder <lb n="pvi_1209.017"/> historischer Wahrheit, das schließlich irgendwie immer auf den Willen berechnet <lb n="pvi_1209.018"/> ist, also die Welt unästhetisch aus dem Standpuncte des Sollens <lb n="pvi_1209.019"/> auffaßt, und das sich von der ästhetischen Einheit entbindet, in welcher es <lb n="pvi_1209.020"/> nur als ein vom lebendig anschaulichen Ganzen getragenes Moment Berechtigung <lb n="pvi_1209.021"/> hat, ist immer zugleich ein falsches Hervortreten der Person des <lb n="pvi_1209.022"/> Dichters, eine Aufhebung der Objectivität, die, in verschiedenem Sinne zwar, <lb n="pvi_1209.023"/> allen Zweigen zukommt, also eine Störung der Jllusion. Jm Epischen <lb n="pvi_1209.024"/> erzählt der Dichter; er verkennt aber das richtige Verhältniß, wonach er <lb n="pvi_1209.025"/> blos Organ ist, wenn er <hi rendition="#g">über</hi> seinen Stoff redet, statt ihn durch seine <lb n="pvi_1209.026"/> Rede nur aufzuzeigen, und das Letztere geschieht, indem er seine Personen <lb n="pvi_1209.027"/> handeln läßt. Hier müssen wir nur §. 513 das Wort des Aristoteles <lb n="pvi_1209.028"/> wieder aufnehmen: der Dichter selbst dürfe am wenigsten sprechen, denn so <lb n="pvi_1209.029"/> sei es nicht gemeint mit seiner Aufgabe, nachzuahmen; die Andern drängen <lb n="pvi_1209.030"/> durchaus die eigene Person vor, ahmen Weniges oder selten nach, Homer <lb n="pvi_1209.031"/> aber führe nach einer kurzen Einleitung geradezu einen Mann oder eine <lb n="pvi_1209.032"/> Frau oder sonst etwas ein und nichts ohne, sondern mit Charakter. Wie <lb n="pvi_1209.033"/> wenig ist dieß einfache Grundgesetz namentlich in unserer Romanliteratur <lb n="pvi_1209.034"/> erkannt und befolgt! Da werden Verhältnisse, Charaktere, Stimmungen <lb n="pvi_1209.035"/> analysirt, statt daß uns durch Handlung gezeigt würde, wie sie sind, da <lb n="pvi_1209.036"/> hört man überall den Dichter als Psychologen, Philosophen, Moralisten, <lb n="pvi_1209.037"/> Politiker, der sich nur dürftig und fadenscheinig in eine Handlung verkleidet <lb n="pvi_1209.038"/> hat. Bei J. Paul, der diese unter Excerpten, Excursen, Reden, Abhandlungen, <lb n="pvi_1209.039"/> Hundsposttagen u. s. w. fast verschüttet, hängt dieß anders zusammen, <lb n="pvi_1209.040"/> denn er weiß eigentlich, daß er sündigt, und thut es aus humoristischem <lb n="pvi_1209.041"/> Eigensinn doch. Eine besonders gewöhnliche Form ist die, daß weit zu </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1209/0071]
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verfahren hat, die der poetischen Composition verwandt ist. Jn dieser pvi_1209.002
Beziehung vorzüglich spricht man von historischem Kunstwerk. Allein das pvi_1209.003
leitende Prinzip bleibt auch hierin für den Geschichtschreiber, daß die sächliche pvi_1209.004
Wahrheit in volles und reines Licht trete. Würde z. B. eine Thatsache pvi_1209.005
oder eine Reihe von Thatsachen noch so dunkle Schatten auf die pvi_1209.006
Jdee einer ewigen Gerechtigkeit werfen, die sich nur anderswo, in andern pvi_1209.007
Geschichtswerken über den weitern Verlauf der Begebenheiten wieder ausgliechen, pvi_1209.008
der Historiker dürfte sie der künstlerischen Anordnung zu liebe pvi_1209.009
natürlich nicht unterdrücken.
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Nach dieser Auseinandersetzung wären nun die verschiedenen Arten des pvi_1209.011
Uebertritts aus der ächten Poesie in die Prosa zu beleuchten. Wir beschränken pvi_1209.012
uns aber hier auf wenige Bemerkungen, weil die Sache an pvi_1209.013
andern Orten zur Sprache kommen muß, nämlich theils in der Darstellung pvi_1209.014
der Zweige der Poesie, theils im Anhang (vergl. §. 547). Ohne Vorgriff pvi_1209.015
in die Zweige sind allerdings auch diese Bemerkungen nicht möglich. – pvi_1209.016
Das Vortragen allgemeiner (wissenschaftlicher, ethischer, politischer) oder pvi_1209.017
historischer Wahrheit, das schließlich irgendwie immer auf den Willen berechnet pvi_1209.018
ist, also die Welt unästhetisch aus dem Standpuncte des Sollens pvi_1209.019
auffaßt, und das sich von der ästhetischen Einheit entbindet, in welcher es pvi_1209.020
nur als ein vom lebendig anschaulichen Ganzen getragenes Moment Berechtigung pvi_1209.021
hat, ist immer zugleich ein falsches Hervortreten der Person des pvi_1209.022
Dichters, eine Aufhebung der Objectivität, die, in verschiedenem Sinne zwar, pvi_1209.023
allen Zweigen zukommt, also eine Störung der Jllusion. Jm Epischen pvi_1209.024
erzählt der Dichter; er verkennt aber das richtige Verhältniß, wonach er pvi_1209.025
blos Organ ist, wenn er über seinen Stoff redet, statt ihn durch seine pvi_1209.026
Rede nur aufzuzeigen, und das Letztere geschieht, indem er seine Personen pvi_1209.027
handeln läßt. Hier müssen wir nur §. 513 das Wort des Aristoteles pvi_1209.028
wieder aufnehmen: der Dichter selbst dürfe am wenigsten sprechen, denn so pvi_1209.029
sei es nicht gemeint mit seiner Aufgabe, nachzuahmen; die Andern drängen pvi_1209.030
durchaus die eigene Person vor, ahmen Weniges oder selten nach, Homer pvi_1209.031
aber führe nach einer kurzen Einleitung geradezu einen Mann oder eine pvi_1209.032
Frau oder sonst etwas ein und nichts ohne, sondern mit Charakter. Wie pvi_1209.033
wenig ist dieß einfache Grundgesetz namentlich in unserer Romanliteratur pvi_1209.034
erkannt und befolgt! Da werden Verhältnisse, Charaktere, Stimmungen pvi_1209.035
analysirt, statt daß uns durch Handlung gezeigt würde, wie sie sind, da pvi_1209.036
hört man überall den Dichter als Psychologen, Philosophen, Moralisten, pvi_1209.037
Politiker, der sich nur dürftig und fadenscheinig in eine Handlung verkleidet pvi_1209.038
hat. Bei J. Paul, der diese unter Excerpten, Excursen, Reden, Abhandlungen, pvi_1209.039
Hundsposttagen u. s. w. fast verschüttet, hängt dieß anders zusammen, pvi_1209.040
denn er weiß eigentlich, daß er sündigt, und thut es aus humoristischem pvi_1209.041
Eigensinn doch. Eine besonders gewöhnliche Form ist die, daß weit zu
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