Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
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pvi_1206.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0068" n="1206"/><lb n="pvi_1206.001"/> werden könne, sei idealisch. Es verhält sich aber so gewiß umgekehrt, <lb n="pvi_1206.002"/> daß nur zu fragen ist, wie Humboldt zur der schiefen Aufstellung gekommen <lb n="pvi_1206.003"/> sei. Nicht die Wirklichkeit schlechthin stellt ihre Jndividuen wie selbständige <lb n="pvi_1206.004"/> Erscheinungen auf, sondern so werden sie aufgefaßt von der <hi rendition="#g">Anschauung,</hi> <lb n="pvi_1206.005"/> und es ist gerade die idealisirende Kunst, welche an der letztern unmittelbar <lb n="pvi_1206.006"/> fortbildet; dagegen die Beobachtung, der Verstand geht hinter die Anschauung <lb n="pvi_1206.007"/> zurück, welche die Dinge aus der Kette ihrer Vermittlungen herausgreift, <lb n="pvi_1206.008"/> stellt sie durch Schlüsse nach den Kategorieen der Causalität, <lb n="pvi_1206.009"/> des Mittels und Zweckes u. s. w. in den Zusammenhang allseitiger Bedingtheit, <lb n="pvi_1206.010"/> und dieß ist die Prosa, welche in Wahrheit eben das gemein <lb n="pvi_1206.011"/> wirkliche Verhältniß begreift. Die Prosa kennt nicht den Schein, als ob <lb n="pvi_1206.012"/> ein Jndividuum absolut sei, das Einzelne ist ihr nie eine Totalität, <lb n="pvi_1206.013"/> sie steigt als Philosophie zu der Jdee einer Totalität auf, welche im ganzen <lb n="pvi_1206.014"/> Weltall, in den unendlichen Zeiten und Räumen, in der allseitigen Vermittlung <lb n="pvi_1206.015"/> und Wechsel-Ergänzung alles Einzelnen real ist; diese Totalität <lb n="pvi_1206.016"/> nennt man im speculativen Sinne concret, das Jndividuum ist in ihr als <lb n="pvi_1206.017"/> lebendiges Glied des Ganzen gesetzt, aber sie ist nicht concret in dem Sinne, <lb n="pvi_1206.018"/> daß das Jndividuum in ihr mangellos seine Gattung und durch sie das <lb n="pvi_1206.019"/> Weltall in sich darstellte. <hi rendition="#g">Dieser</hi> Betrachtung gegenüber ist das Einzelne <lb n="pvi_1206.020"/> auf dem Standpuncte der Prosa immer todt, und zwar ohne Unterschied <lb n="pvi_1206.021"/> der niedrigeren und höheren Gebiete; alle Prosa liest das Allgemeine aus <lb n="pvi_1206.022"/> seinen Jndividuen zusammen, die Poesie <hi rendition="#g">hat</hi> es <hi rendition="#g">im</hi> Jndividuum. Jene <lb n="pvi_1206.023"/> Fäden der Causalität, welche vom Jndividuum fortleiten in den unendlichen <lb n="pvi_1206.024"/> Progreß des Einzelnen, schneidet die Poesie gerade durch, während die Prosa <lb n="pvi_1206.025"/> sie verfolgt. Man sieht aber, wie W. Humboldt bei seiner übrigens so <lb n="pvi_1206.026"/> richtigen Jdee vom Schönen auf den falschen Begriff gekommen ist. Er <lb n="pvi_1206.027"/> bezeichnet (a. a. O. S. 21) die Phantasie als einen <hi rendition="#g">Theil</hi> der Vernunftthätigkeit, <lb n="pvi_1206.028"/> deren Aufgabe es ist, Alles im Zusammenhang zu fassen, zu <lb n="pvi_1206.029"/> Einheiten und endlich zur höchsten Einheit zu verbinden. Die Phantasie <lb n="pvi_1206.030"/> ist nun wohl eine der Formen des absoluten Geistes, in ihrem Verfahren <lb n="pvi_1206.031"/> aber von den übrigen Formen dieser höchsten Sphäre gerade dadurch verschieden, <lb n="pvi_1206.032"/> daß sie die Sinnlichkeit in sie heraufnimmt und die höchste Einheit <lb n="pvi_1206.033"/> in das sinnlich Eine legt, und eben dieser Unterschied war hier zu betonen. <lb n="pvi_1206.034"/> Ferner erkennt Humboldt als wesentlichen Grundzug des Schönen die <lb n="pvi_1206.035"/> <hi rendition="#g">Tilgung</hi> des gemein <hi rendition="#g">Zufälligen</hi> und meint nun, diese müsse dadurch <lb n="pvi_1206.036"/> bewerkstelligt werden, daß die Dinge in ihrem allseitigen Zusammenhang <lb n="pvi_1206.037"/> nach Grund und Folge aufgefaßt werden. Allein auf <hi rendition="#g">diese</hi> Weise tilgt <lb n="pvi_1206.038"/> eben nur die Prosa den rohen Begriff des Zufalls, indem sie zeigt, daß <lb n="pvi_1206.039"/> das, was eine jeweilig gegebene Linie anscheinend irrationell durchkreuzt, <lb n="pvi_1206.040"/> vielmehr nur eine Folge davon ist, daß das Ganze des Lebens ein System <lb n="pvi_1206.041"/> von Linien bildet, die sich nach allen Seiten unberechenbar schneiden; nicht </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1206/0068]
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werden könne, sei idealisch. Es verhält sich aber so gewiß umgekehrt, pvi_1206.002
daß nur zu fragen ist, wie Humboldt zur der schiefen Aufstellung gekommen pvi_1206.003
sei. Nicht die Wirklichkeit schlechthin stellt ihre Jndividuen wie selbständige pvi_1206.004
Erscheinungen auf, sondern so werden sie aufgefaßt von der Anschauung, pvi_1206.005
und es ist gerade die idealisirende Kunst, welche an der letztern unmittelbar pvi_1206.006
fortbildet; dagegen die Beobachtung, der Verstand geht hinter die Anschauung pvi_1206.007
zurück, welche die Dinge aus der Kette ihrer Vermittlungen herausgreift, pvi_1206.008
stellt sie durch Schlüsse nach den Kategorieen der Causalität, pvi_1206.009
des Mittels und Zweckes u. s. w. in den Zusammenhang allseitiger Bedingtheit, pvi_1206.010
und dieß ist die Prosa, welche in Wahrheit eben das gemein pvi_1206.011
wirkliche Verhältniß begreift. Die Prosa kennt nicht den Schein, als ob pvi_1206.012
ein Jndividuum absolut sei, das Einzelne ist ihr nie eine Totalität, pvi_1206.013
sie steigt als Philosophie zu der Jdee einer Totalität auf, welche im ganzen pvi_1206.014
Weltall, in den unendlichen Zeiten und Räumen, in der allseitigen Vermittlung pvi_1206.015
und Wechsel-Ergänzung alles Einzelnen real ist; diese Totalität pvi_1206.016
nennt man im speculativen Sinne concret, das Jndividuum ist in ihr als pvi_1206.017
lebendiges Glied des Ganzen gesetzt, aber sie ist nicht concret in dem Sinne, pvi_1206.018
daß das Jndividuum in ihr mangellos seine Gattung und durch sie das pvi_1206.019
Weltall in sich darstellte. Dieser Betrachtung gegenüber ist das Einzelne pvi_1206.020
auf dem Standpuncte der Prosa immer todt, und zwar ohne Unterschied pvi_1206.021
der niedrigeren und höheren Gebiete; alle Prosa liest das Allgemeine aus pvi_1206.022
seinen Jndividuen zusammen, die Poesie hat es im Jndividuum. Jene pvi_1206.023
Fäden der Causalität, welche vom Jndividuum fortleiten in den unendlichen pvi_1206.024
Progreß des Einzelnen, schneidet die Poesie gerade durch, während die Prosa pvi_1206.025
sie verfolgt. Man sieht aber, wie W. Humboldt bei seiner übrigens so pvi_1206.026
richtigen Jdee vom Schönen auf den falschen Begriff gekommen ist. Er pvi_1206.027
bezeichnet (a. a. O. S. 21) die Phantasie als einen Theil der Vernunftthätigkeit, pvi_1206.028
deren Aufgabe es ist, Alles im Zusammenhang zu fassen, zu pvi_1206.029
Einheiten und endlich zur höchsten Einheit zu verbinden. Die Phantasie pvi_1206.030
ist nun wohl eine der Formen des absoluten Geistes, in ihrem Verfahren pvi_1206.031
aber von den übrigen Formen dieser höchsten Sphäre gerade dadurch verschieden, pvi_1206.032
daß sie die Sinnlichkeit in sie heraufnimmt und die höchste Einheit pvi_1206.033
in das sinnlich Eine legt, und eben dieser Unterschied war hier zu betonen. pvi_1206.034
Ferner erkennt Humboldt als wesentlichen Grundzug des Schönen die pvi_1206.035
Tilgung des gemein Zufälligen und meint nun, diese müsse dadurch pvi_1206.036
bewerkstelligt werden, daß die Dinge in ihrem allseitigen Zusammenhang pvi_1206.037
nach Grund und Folge aufgefaßt werden. Allein auf diese Weise tilgt pvi_1206.038
eben nur die Prosa den rohen Begriff des Zufalls, indem sie zeigt, daß pvi_1206.039
das, was eine jeweilig gegebene Linie anscheinend irrationell durchkreuzt, pvi_1206.040
vielmehr nur eine Folge davon ist, daß das Ganze des Lebens ein System pvi_1206.041
von Linien bildet, die sich nach allen Seiten unberechenbar schneiden; nicht
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