Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.pvi_1200.001 Die Poesie schwebt zwischen den beiden Verirrungen, von deren zweiter pvi_1200.008 pvi_1200.001 Die Poesie schwebt zwischen den beiden Verirrungen, von deren zweiter pvi_1200.008 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0062" n="1200"/><lb n="pvi_1200.001"/> daß es in den Bewegungszug der Phantasie aufgenommen wird. <lb n="pvi_1200.002"/> Tiefer betrachtet entspringt das wahre Stylgesetz aus der Zusammenfassung der <lb n="pvi_1200.003"/> Aufgabe der Poesie, Gestalten zu geben (§. 838), mit ihrer höchsten, die innere <lb n="pvi_1200.004"/> Welt und schließlich Handlung darzustellen (§. 842), und bestimmt sich dahin, <lb n="pvi_1200.005"/> daß diese Kunst <hi rendition="#g">Körper andeutungsweise durch Handlungen nachzuahmen <lb n="pvi_1200.006"/> hat</hi> (Lessing).</p> <lb n="pvi_1200.007"/> <p> <hi rendition="#et"> Die Poesie schwebt zwischen den beiden Verirrungen, von deren zweiter <lb n="pvi_1200.008"/> dieser §. handelt, wie zwischen Scylla und Charybdis: um der gestaltlosen <lb n="pvi_1200.009"/> Empfindung zu entgehen, verfällt der Dichter leicht in das Verfahren des <lb n="pvi_1200.010"/> Malers und da die Flucht vor dem Unbestimmten und Farblosen jedem <lb n="pvi_1200.011"/> klaren Geiste das Natürlichere ist, so droht von dieser Klippe die größere <lb n="pvi_1200.012"/> Gefahr. Die deutsche Literatur darf stolz darauf sein, durch Lessing das <lb n="pvi_1200.013"/> große Grundgesetz der Dichtkunst, welches dieser §. ausspricht, ein für allemal <lb n="pvi_1200.014"/> hingestellt zu haben. Seit wir seinen Laokoon besitzen, gehört der Satz, <lb n="pvi_1200.015"/> daß der Dichter nicht malen soll, zum A B C der Poesie. Wer dagegen <lb n="pvi_1200.016"/> am meisten fehlt, sind noch heute, wie damals, als sie die beschreibende <lb n="pvi_1200.017"/> Poesie einführten, die in Deutschland in den Brockes, Haller, Kleist ihre <lb n="pvi_1200.018"/> Nachahmer fand und gegen welche Lessing's Schrift gerichtet war, die Engländer; <lb n="pvi_1200.019"/> Walter Scott hat seine bedeutenden Schöpfungen unter dem Druck <lb n="pvi_1200.020"/> eines eingefleischten Sündigens gegen diesen Urcodex fast erstickt. Es ist das <lb n="pvi_1200.021"/> scharfe, fast mikroskopische Sehen, was ihn und Andere dazu verführt: das <lb n="pvi_1200.022"/> umständliche Aufzählen der Züge soll den Leser in den Stand setzen, die <lb n="pvi_1200.023"/> Gestalt bis zur Jllusion des physischen Schauens und Greifens überzeugend <lb n="pvi_1200.024"/> vor sich zu bekommen; der Dichter will den Beweis führen, daß er selbst <lb n="pvi_1200.025"/> so haarscharf geschaut habe, und der Leser soll ihm folgen, aber die Wirkung <lb n="pvi_1200.026"/> ist die entgegengesetzte. – Jn der Nachweisung des Gesetzes, von dem es <lb n="pvi_1200.027"/> sich hier handelt und auf das wir zu §. 839 und 840 vorläufig hingedeutet <lb n="pvi_1200.028"/> haben, weichen wir jedoch von Lessing's Begründung (s. Laokoon Cap. <lb n="pvi_1200.029"/> 16 und 21) auf den ersten Schritten ab, um erst zum Schlusse die positive <lb n="pvi_1200.030"/> Formel von ihm zu entlehnen. Der Satz, von welchem er ausgeht, daß <lb n="pvi_1200.031"/> die Kategorie der Zeit, welcher die Poesie durch ihr Darstellungsmittel angehört, <lb n="pvi_1200.032"/> das Simultane des räumlichen Nebeneinander als Jnhalt des <lb n="pvi_1200.033"/> Dargestellten ausschließe, ist nicht richtig. Die Kategorie, in welche das <lb n="pvi_1200.034"/> Vehikel fällt, ist allerdings zugleich diejenige, in welcher das Leben des <lb n="pvi_1200.035"/> Geistes an sich, also das Organ, von welchem und für welches gedichtet <lb n="pvi_1200.036"/> wird, sich bewegt. Das Zeitleben des Geistes ist aber, wie wir gezeigt <lb n="pvi_1200.037"/> haben, in jedem Moment eine intensive Einheit von Verschiedenem, so denn <lb n="pvi_1200.038"/> auch als Phantasie eine intensive Anschauung einer Vielheit, welche im <lb n="pvi_1200.039"/> Raum ausgebreitet ist: Ein innerlicher Blick, der ein Ganzes von coexistirenden <lb n="pvi_1200.040"/> Theilen überschaut. Der Gegenstand dieser innern Anschauung </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1200/0062]
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daß es in den Bewegungszug der Phantasie aufgenommen wird. pvi_1200.002
Tiefer betrachtet entspringt das wahre Stylgesetz aus der Zusammenfassung der pvi_1200.003
Aufgabe der Poesie, Gestalten zu geben (§. 838), mit ihrer höchsten, die innere pvi_1200.004
Welt und schließlich Handlung darzustellen (§. 842), und bestimmt sich dahin, pvi_1200.005
daß diese Kunst Körper andeutungsweise durch Handlungen nachzuahmen pvi_1200.006
hat (Lessing).
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Die Poesie schwebt zwischen den beiden Verirrungen, von deren zweiter pvi_1200.008
dieser §. handelt, wie zwischen Scylla und Charybdis: um der gestaltlosen pvi_1200.009
Empfindung zu entgehen, verfällt der Dichter leicht in das Verfahren des pvi_1200.010
Malers und da die Flucht vor dem Unbestimmten und Farblosen jedem pvi_1200.011
klaren Geiste das Natürlichere ist, so droht von dieser Klippe die größere pvi_1200.012
Gefahr. Die deutsche Literatur darf stolz darauf sein, durch Lessing das pvi_1200.013
große Grundgesetz der Dichtkunst, welches dieser §. ausspricht, ein für allemal pvi_1200.014
hingestellt zu haben. Seit wir seinen Laokoon besitzen, gehört der Satz, pvi_1200.015
daß der Dichter nicht malen soll, zum A B C der Poesie. Wer dagegen pvi_1200.016
am meisten fehlt, sind noch heute, wie damals, als sie die beschreibende pvi_1200.017
Poesie einführten, die in Deutschland in den Brockes, Haller, Kleist ihre pvi_1200.018
Nachahmer fand und gegen welche Lessing's Schrift gerichtet war, die Engländer; pvi_1200.019
Walter Scott hat seine bedeutenden Schöpfungen unter dem Druck pvi_1200.020
eines eingefleischten Sündigens gegen diesen Urcodex fast erstickt. Es ist das pvi_1200.021
scharfe, fast mikroskopische Sehen, was ihn und Andere dazu verführt: das pvi_1200.022
umständliche Aufzählen der Züge soll den Leser in den Stand setzen, die pvi_1200.023
Gestalt bis zur Jllusion des physischen Schauens und Greifens überzeugend pvi_1200.024
vor sich zu bekommen; der Dichter will den Beweis führen, daß er selbst pvi_1200.025
so haarscharf geschaut habe, und der Leser soll ihm folgen, aber die Wirkung pvi_1200.026
ist die entgegengesetzte. – Jn der Nachweisung des Gesetzes, von dem es pvi_1200.027
sich hier handelt und auf das wir zu §. 839 und 840 vorläufig hingedeutet pvi_1200.028
haben, weichen wir jedoch von Lessing's Begründung (s. Laokoon Cap. pvi_1200.029
16 und 21) auf den ersten Schritten ab, um erst zum Schlusse die positive pvi_1200.030
Formel von ihm zu entlehnen. Der Satz, von welchem er ausgeht, daß pvi_1200.031
die Kategorie der Zeit, welcher die Poesie durch ihr Darstellungsmittel angehört, pvi_1200.032
das Simultane des räumlichen Nebeneinander als Jnhalt des pvi_1200.033
Dargestellten ausschließe, ist nicht richtig. Die Kategorie, in welche das pvi_1200.034
Vehikel fällt, ist allerdings zugleich diejenige, in welcher das Leben des pvi_1200.035
Geistes an sich, also das Organ, von welchem und für welches gedichtet pvi_1200.036
wird, sich bewegt. Das Zeitleben des Geistes ist aber, wie wir gezeigt pvi_1200.037
haben, in jedem Moment eine intensive Einheit von Verschiedenem, so denn pvi_1200.038
auch als Phantasie eine intensive Anschauung einer Vielheit, welche im pvi_1200.039
Raum ausgebreitet ist: Ein innerlicher Blick, der ein Ganzes von coexistirenden pvi_1200.040
Theilen überschaut. Der Gegenstand dieser innern Anschauung
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