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Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.

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Kunst an sich dar;
die beziehungsweise Leichtigkeit ihrer Uebung ist nur ein pvi_1194.002
Ausdruck ihrer geistigen Natur. Daher verhält sie sich anders zur zeitlichen pvi_1194.003
Entwicklung, als jene: sie eilt ihnen, in naiver Form mit der Musik vereinigt, pvi_1194.004
aber auch in höherer Ausbildung voran, sie ist keiner Nation fremd, pvi_1194.005
sie ist daher die älteste Kunst; aber zu voller Entwicklung ihres Wesens ist pvi_1194.006
moderne Cultur vorausgesetzt, daher ist sie ebensosehr die neueste Kunst.

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Der Hauptsatz dieses §. ist schon durch den Jnhalt des vorh. eingeleitet, pvi_1194.008
denn wenn die Poesie auf einer Basis der Auffassung, wobei die pvi_1194.009
höchste der bildenden Künste, die Malerei, nicht zu voller Entwicklung gelangen pvi_1194.010
kann, doch in einer Form aufzutreten vermag, welcher kein Merkmal pvi_1194.011
der Kunst mangelt, so sieht man in ein Verhältniß, worin die Coordination pvi_1194.012
mit den andern Künsten aufhört und die Dichtung von ihnen pvi_1194.013
gelöst wie ein feiner Aether über festen Körpern erscheint, ja die Stellung pvi_1194.014
des Begriffs zu den realen Jndividuen einnimmt. Sie verhält sich zum pvi_1194.015
System der Künste wie das bedeutendste Nervencentrum, das Gehirn, zu pvi_1194.016
den untergeordneten Nerven-Centren und zu den Gliedern, nur daß man pvi_1194.017
dieß Bild ja nicht so verstehen darf, wie Rich. Wagner es braucht, als pvi_1194.018
bezeichne es das Denken im Gegensatze von Empfinden und Anschauen, pvi_1194.019
denn die Poesie ist ja vielmehr die ganze Kunst, vereinigt Empfinden und pvi_1194.020
Anschauen, die Musik und die bildenden Künste, eben wie im Gehirn jede pvi_1194.021
Thätigkeit des ganzen Organismus concentrirt ist, vorgebildet wird. Der pvi_1194.022
Begriff der Allgemeinheit trägt sich nun auf das Historische so über, daß pvi_1194.023
sie von jedem Volk in jedem Bildungszustande geübt wird, nach Göthe's pvi_1194.024
Wort "eine Welt- und Völkergabe" ist und daß sie in der einzelnen Epoche pvi_1194.025
den schweren Gang der andern Künste nicht abwartet, sondern ihnen vorauseilt. pvi_1194.026
Natürlich erklärt sich dieß vor Allem aus der Geschmeidigkeit ihres pvi_1194.027
Vehikels, der Sprache: denn obwohl dieselbe künstlerisch, technisch gebildet pvi_1194.028
werden muß, ist doch diese Arbeit dadurch unendlich erleichtert, daß hier dem pvi_1194.029
Subjecte kein fremder Stoff mit der Sprödigkeit des Objects gegenübersteht, pvi_1194.030
wie im eigentlichen Materiale bei den andern Künsten, sondern eine pvi_1194.031
Aeußerungsform, die an sich zum Leben des Subjects gehört, nur edler, pvi_1194.032
schwungvoller, gemessener zu gestalten ist. Diese technische Leichtigkeit ist pvi_1194.033
daher nur die andere Seite der relativen Körperlosigkeit, der Geistigkeit der pvi_1194.034
Poesie. Es erhellt aus dem Wesen einer solchen Kunst, warum auch das pvi_1194.035
speziellere Talent für sie ungleich verbreiteter ist, als die Begabung für pvi_1194.036
andere Künste, denn sie liegt ja in dem reinen, menschlichen Wesen unmittelbarer, pvi_1194.037
inniger begründet, als diese. Jhre eng verwandte Nachbarinn, die pvi_1194.038
Musik, scheint als die subjective Kunstform auf diese Bedeutung mehr Anspruch pvi_1194.039
machen zu können und demnach sollte man meinen, das Talent für pvi_1194.040
sie sei verbreiteter. Allein das wahrhaft allgemein Menschliche ist nicht

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Kunst an sich dar;
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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857, S. 1194. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_poetik_1857/56>, abgerufen am 25.11.2024.