pvi_1190.001 reichen Mittel des Dichters wird es nun in den tiefen geistigen Zusammenhang pvi_1190.002 gesetzt, der es gleichzeitig verstärkt und mildert. Es erhält einen pvi_1190.003 eigenthümlichen dämonischen Reiz, indem es mit dem Großen und Edeln pvi_1190.004 geheimnißvoll sich verwickelt und in seiner äußersten Verirrung noch einen pvi_1190.005 verführerischen Erinnerungsschimmer des Schönen auf der Stirne trägt.
pvi_1190.006
Mit der vollen Enthüllung der innern Welt öffnen sich aber auch erst pvi_1190.007 alle jene Widersprüche, durch welche dem Häßlichen sein Stachel genommen, pvi_1190.008 vielmehr in einen Reiz zum Lachen verwandelt wird, und ein gemalter Falstaff pvi_1190.009 ist nicht halb so komisch, als der wandelnde, sprechende, handelnde, pvi_1190.010 dem wir in das Spiel hineinsehen, das seine Genußsucht, sein Witz und pvi_1190.011 sein Gewissen miteinander treiben wie drei Eimer, die immer ihren Stoff pvi_1190.012 ineinander herüber- und hinübergießen. Die Metaphysik des Schönen hat pvi_1190.013 gezeigt, daß keine seiner Grundformen nach der Seite seines Jnhaltes so pvi_1190.014 entschieden ein Hergang, ein Verlauf und nach der subjectiven Seite so pvi_1190.015 prägnant ein Act des Bewußtseins ist, wie das Komische. Daraus folgt, pvi_1190.016 daß nur diejenige Kunst, welche wirkliche Bewegung darstellt und durch die pvi_1190.017 Sprache eine Kunst des Bewußtseins ist, diese Welt erschöpfen kann. Wir pvi_1190.018 haben gesehen, wie die Malerei trotz ihren erweiterten Grenzen im Grunde pvi_1190.019 sehr zurückhaltend, mäßig im Komischen ist und sein muß. Der Dichter pvi_1190.020 also erst entfesselt alle Geister des Humors, er erst zeigt uns, wie Weisheit pvi_1190.021 und Thorheit, Kraft und Schwäche in den Tiefen des Gemüths miteinander pvi_1190.022 ihr Spiel treiben, und führt dieß Spiel an das Tageslicht der bewegten, pvi_1190.023 springenden Handlung heraus.
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Die Grenze des Verzerrten und Tollen liegt daher für den Dichter pvi_1190.025 einzig in dem allgemeinen ästhetischen Gesetze, daß es sich nicht als solches pvi_1190.026 verselbständige, sondern in eine jener contrastirenden Formen des Schönen pvi_1190.027 überlaufe; es steht zwischen ihm und diesem Reichsgesetze keine Zwischen= pvi_1190.028 Jnstanz, er ist reichs=unmittelbar. Allein auch das einfach Schöne erscheint pvi_1190.029 in unendlich vertiefter Anmuth, wenn es durch die Kunst des Bewußtseins pvi_1190.030 und der Sprache wesentlich als Seelenschönheit auftritt. Ein Wort kann pvi_1190.031 einen innern Himmel der Liebe, Reinheit, Unschuld enthüllen, in dessen pvi_1190.032 Herrlichkeit der bildende Künstler mit allen seinen Mitteln uns so nicht pvi_1190.033 blicken lassen kann; die Seelen-Anmuth einer Margarethe im Faust, einer pvi_1190.034 Cordelia, Ophelia, Desdemona ist dem Griffel und Pinsel unerreichbar.
pvi_1190.035
§. 844.
pvi_1190.036
Hiemit ergibt sich, daß die Poesie noch mehr, als die Malerei (vergl. §. 657), pvi_1190.037 auf das Prinzip der indirecten Jdealisirung gewiesen ist. Dennoch wird pvi_1190.038 dadurch das entgegengesetzte der directen Jdealisirung weniger, als in jener pvi_1190.039 Kunst, auf die Seite gedrängt.
pvi_1190.001 reichen Mittel des Dichters wird es nun in den tiefen geistigen Zusammenhang pvi_1190.002 gesetzt, der es gleichzeitig verstärkt und mildert. Es erhält einen pvi_1190.003 eigenthümlichen dämonischen Reiz, indem es mit dem Großen und Edeln pvi_1190.004 geheimnißvoll sich verwickelt und in seiner äußersten Verirrung noch einen pvi_1190.005 verführerischen Erinnerungsschimmer des Schönen auf der Stirne trägt.
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Mit der vollen Enthüllung der innern Welt öffnen sich aber auch erst pvi_1190.007 alle jene Widersprüche, durch welche dem Häßlichen sein Stachel genommen, pvi_1190.008 vielmehr in einen Reiz zum Lachen verwandelt wird, und ein gemalter Falstaff pvi_1190.009 ist nicht halb so komisch, als der wandelnde, sprechende, handelnde, pvi_1190.010 dem wir in das Spiel hineinsehen, das seine Genußsucht, sein Witz und pvi_1190.011 sein Gewissen miteinander treiben wie drei Eimer, die immer ihren Stoff pvi_1190.012 ineinander herüber- und hinübergießen. Die Metaphysik des Schönen hat pvi_1190.013 gezeigt, daß keine seiner Grundformen nach der Seite seines Jnhaltes so pvi_1190.014 entschieden ein Hergang, ein Verlauf und nach der subjectiven Seite so pvi_1190.015 prägnant ein Act des Bewußtseins ist, wie das Komische. Daraus folgt, pvi_1190.016 daß nur diejenige Kunst, welche wirkliche Bewegung darstellt und durch die pvi_1190.017 Sprache eine Kunst des Bewußtseins ist, diese Welt erschöpfen kann. Wir pvi_1190.018 haben gesehen, wie die Malerei trotz ihren erweiterten Grenzen im Grunde pvi_1190.019 sehr zurückhaltend, mäßig im Komischen ist und sein muß. Der Dichter pvi_1190.020 also erst entfesselt alle Geister des Humors, er erst zeigt uns, wie Weisheit pvi_1190.021 und Thorheit, Kraft und Schwäche in den Tiefen des Gemüths miteinander pvi_1190.022 ihr Spiel treiben, und führt dieß Spiel an das Tageslicht der bewegten, pvi_1190.023 springenden Handlung heraus.
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Die Grenze des Verzerrten und Tollen liegt daher für den Dichter pvi_1190.025 einzig in dem allgemeinen ästhetischen Gesetze, daß es sich nicht als solches pvi_1190.026 verselbständige, sondern in eine jener contrastirenden Formen des Schönen pvi_1190.027 überlaufe; es steht zwischen ihm und diesem Reichsgesetze keine Zwischen= pvi_1190.028 Jnstanz, er ist reichs=unmittelbar. Allein auch das einfach Schöne erscheint pvi_1190.029 in unendlich vertiefter Anmuth, wenn es durch die Kunst des Bewußtseins pvi_1190.030 und der Sprache wesentlich als Seelenschönheit auftritt. Ein Wort kann pvi_1190.031 einen innern Himmel der Liebe, Reinheit, Unschuld enthüllen, in dessen pvi_1190.032 Herrlichkeit der bildende Künstler mit allen seinen Mitteln uns so nicht pvi_1190.033 blicken lassen kann; die Seelen-Anmuth einer Margarethe im Faust, einer pvi_1190.034 Cordelia, Ophelia, Desdemona ist dem Griffel und Pinsel unerreichbar.
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§. 844.
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Hiemit ergibt sich, daß die Poesie noch mehr, als die Malerei (vergl. §. 657), pvi_1190.037 auf das Prinzip der indirecten Jdealisirung gewiesen ist. Dennoch wird pvi_1190.038 dadurch das entgegengesetzte der directen Jdealisirung weniger, als in jener pvi_1190.039 Kunst, auf die Seite gedrängt.
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Cordelia, Ophelia, Desdemona ist dem Griffel und Pinsel unerreichbar.
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§. 844.
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Hiemit ergibt sich, daß die Poesie noch mehr, als die Malerei (vergl. §. 657), pvi_1190.037
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Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857, S. 1190. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_poetik_1857/52>, abgerufen am 16.07.2024.
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