Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
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pvi_1188.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0050" n="1188"/><lb n="pvi_1188.001"/> Widerspruch, denn was durch die Verhüllung vor dem äußern Sinne geschwächt <lb n="pvi_1188.002"/> wird, ist eben nicht das Furchtbare, sondern das Häßliche, das zu <lb n="pvi_1188.003"/> sehr als solches sich zu fühlen gibt, um sich in das Furchtbare poetisch aufzulösen, <lb n="pvi_1188.004"/> wenn diese Schwächung nicht Statt findet. Unter Anderem wird <lb n="pvi_1188.005"/> es hiedurch möglich, selbst einen Sinnen-Eindruck zu vergegenwärtigen, in <lb n="pvi_1188.006"/> welchem das Häßliche recht eigentlich als ein Eckelhaftes auftritt: den Gestank; <lb n="pvi_1188.007"/> der Dichter kann diese apprehensive Wirkung als Hebel des Furchtbaren <lb n="pvi_1188.008"/> (z. B. mephitische Dünste der Flüsse der Unterwelt, verwesender Leichname) <lb n="pvi_1188.009"/> so verwenden, daß der Eckel nur ein Mittel ist, Grauen zu wecken. <lb n="pvi_1188.010"/> Er kann aber auch, was den einen Sinn beleidigt, zugleich einem andern <lb n="pvi_1188.011"/> zu vernehmen geben, das Uebergewicht des Jnteresses im Sinne des Furchtbaren <lb n="pvi_1188.012"/> diesem zuschieben und so das Häßliche, was jenen verletzt, zu einem <lb n="pvi_1188.013"/> bloßen Moment herabsetzen: „wenn Virgil's Laokoon schreit, wem fällt es <lb n="pvi_1188.014"/> dabei ein, daß ein großes Maul zum Schreien nöthig ist und daß dieses große <lb n="pvi_1188.015"/> Maul häßlich läßt? Genug daß: <hi rendition="#aq">clamores horrendos ad sidera tollit</hi> ein <lb n="pvi_1188.016"/> erhabener Zug für das Gehör ist, mag er doch für das Gesicht sein, was <lb n="pvi_1188.017"/> er will“ (Lessing Laok. Cap. 4). Hier dient also dem Dichter die gleichzeitige <lb n="pvi_1188.018"/> Verbindung eines Zugs mit andern Zügen; das wichtigste Auflösungsmittel <lb n="pvi_1188.019"/> aber ist ihm natürlich das successive Fortrücken im Gegensatze <lb n="pvi_1188.020"/> gegen das Fixiren des Moments in der bildenden Kunst: das Bild, das <lb n="pvi_1188.021"/> schwebend am innern Sinne vorüberzieht, läßt sich unendlich leichter in die <lb n="pvi_1188.022"/> positive anderweitige Wirkung überleiten, die es, an sich häßlich, hervorrufen <lb n="pvi_1188.023"/> soll; der Laokoon schiene im Marmor unabläßig zu schreien, bei dem Dichter <lb n="pvi_1188.024"/> schreit er nur einen Augenblick (Lessing a. a. O. Cap. 3); wie aber ein <lb n="pvi_1188.025"/> solcher weitgeöffneter Mund auf die Leinwand gefesselt sich ausnimmt, kann <lb n="pvi_1188.026"/> man an dem gekreuzigten Petrus von Rubens in Köln sehen. Es ist schon <lb n="pvi_1188.027"/> in der Lehre von der Bildnerkunst gezeigt worden, daß Lessing Unrecht hat, <lb n="pvi_1188.028"/> wenn er der bildenden Kunst (obwohl er im Allgemeinen natürlich zugibt, <lb n="pvi_1188.029"/> daß sie die Bewegung errathen lassen, daß sie Handlungen andeutungsweise <lb n="pvi_1188.030"/> durch Körper ausdrücken kann), doch das entschieden Transitorische <lb n="pvi_1188.031"/> verschließt, vergl. §. 613 und 623; zu dem letztern §. ist der Satz aufgestellt: <lb n="pvi_1188.032"/> verboten ist nicht das Augenblickliche an sich, sondern das, dessen <lb n="pvi_1188.033"/> Anblick nur einen Augenblick erträglich ist. Auch <hi rendition="#g">Frauenstädt</hi> (Aesth. <lb n="pvi_1188.034"/> Fragen <hi rendition="#aq">XIV</hi>) weist nach, daß Lessing hier die Form des dargestellten Gegenstandes <lb n="pvi_1188.035"/> und die Natur des Materials, worin dargestellt wird, miteinander <lb n="pvi_1188.036"/> verwechselt, indem die Fixirung im dauernden Materiale keineswegs die abgebildete <lb n="pvi_1188.037"/> Bewegung in räumliche Dauer verwandelt, also z. B. der fliegende <lb n="pvi_1188.038"/> Vogel darum, weil sein Bild auf der Leinwand festhaftet, keineswegs zu <lb n="pvi_1188.039"/> einem ruhenden wird. Nur fehlt er dann selbst gegen die Logik, wenn er <lb n="pvi_1188.040"/> sagt, in der Poesie werden gewisse Darstellungen, welche nicht wegen ihrer <lb n="pvi_1188.041"/> Bewegtheit an sich, sondern wegen der grellen Art derselben aus der Sculptur </hi> </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1188/0050]
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Widerspruch, denn was durch die Verhüllung vor dem äußern Sinne geschwächt pvi_1188.002
wird, ist eben nicht das Furchtbare, sondern das Häßliche, das zu pvi_1188.003
sehr als solches sich zu fühlen gibt, um sich in das Furchtbare poetisch aufzulösen, pvi_1188.004
wenn diese Schwächung nicht Statt findet. Unter Anderem wird pvi_1188.005
es hiedurch möglich, selbst einen Sinnen-Eindruck zu vergegenwärtigen, in pvi_1188.006
welchem das Häßliche recht eigentlich als ein Eckelhaftes auftritt: den Gestank; pvi_1188.007
der Dichter kann diese apprehensive Wirkung als Hebel des Furchtbaren pvi_1188.008
(z. B. mephitische Dünste der Flüsse der Unterwelt, verwesender Leichname) pvi_1188.009
so verwenden, daß der Eckel nur ein Mittel ist, Grauen zu wecken. pvi_1188.010
Er kann aber auch, was den einen Sinn beleidigt, zugleich einem andern pvi_1188.011
zu vernehmen geben, das Uebergewicht des Jnteresses im Sinne des Furchtbaren pvi_1188.012
diesem zuschieben und so das Häßliche, was jenen verletzt, zu einem pvi_1188.013
bloßen Moment herabsetzen: „wenn Virgil's Laokoon schreit, wem fällt es pvi_1188.014
dabei ein, daß ein großes Maul zum Schreien nöthig ist und daß dieses große pvi_1188.015
Maul häßlich läßt? Genug daß: clamores horrendos ad sidera tollit ein pvi_1188.016
erhabener Zug für das Gehör ist, mag er doch für das Gesicht sein, was pvi_1188.017
er will“ (Lessing Laok. Cap. 4). Hier dient also dem Dichter die gleichzeitige pvi_1188.018
Verbindung eines Zugs mit andern Zügen; das wichtigste Auflösungsmittel pvi_1188.019
aber ist ihm natürlich das successive Fortrücken im Gegensatze pvi_1188.020
gegen das Fixiren des Moments in der bildenden Kunst: das Bild, das pvi_1188.021
schwebend am innern Sinne vorüberzieht, läßt sich unendlich leichter in die pvi_1188.022
positive anderweitige Wirkung überleiten, die es, an sich häßlich, hervorrufen pvi_1188.023
soll; der Laokoon schiene im Marmor unabläßig zu schreien, bei dem Dichter pvi_1188.024
schreit er nur einen Augenblick (Lessing a. a. O. Cap. 3); wie aber ein pvi_1188.025
solcher weitgeöffneter Mund auf die Leinwand gefesselt sich ausnimmt, kann pvi_1188.026
man an dem gekreuzigten Petrus von Rubens in Köln sehen. Es ist schon pvi_1188.027
in der Lehre von der Bildnerkunst gezeigt worden, daß Lessing Unrecht hat, pvi_1188.028
wenn er der bildenden Kunst (obwohl er im Allgemeinen natürlich zugibt, pvi_1188.029
daß sie die Bewegung errathen lassen, daß sie Handlungen andeutungsweise pvi_1188.030
durch Körper ausdrücken kann), doch das entschieden Transitorische pvi_1188.031
verschließt, vergl. §. 613 und 623; zu dem letztern §. ist der Satz aufgestellt: pvi_1188.032
verboten ist nicht das Augenblickliche an sich, sondern das, dessen pvi_1188.033
Anblick nur einen Augenblick erträglich ist. Auch Frauenstädt (Aesth. pvi_1188.034
Fragen XIV) weist nach, daß Lessing hier die Form des dargestellten Gegenstandes pvi_1188.035
und die Natur des Materials, worin dargestellt wird, miteinander pvi_1188.036
verwechselt, indem die Fixirung im dauernden Materiale keineswegs die abgebildete pvi_1188.037
Bewegung in räumliche Dauer verwandelt, also z. B. der fliegende pvi_1188.038
Vogel darum, weil sein Bild auf der Leinwand festhaftet, keineswegs zu pvi_1188.039
einem ruhenden wird. Nur fehlt er dann selbst gegen die Logik, wenn er pvi_1188.040
sagt, in der Poesie werden gewisse Darstellungen, welche nicht wegen ihrer pvi_1188.041
Bewegtheit an sich, sondern wegen der grellen Art derselben aus der Sculptur
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